Direkt aus der Hölle der Gegenwart
Die Schriftstellerin Gabriele Riedle seziert die Krisenberichterstattung.
SALZBURG. In Libyen kämpfen die Rebellen gegen die Truppen von Diktator Gaddafi. Der Kriegsfotograf und Dokumentarfilmer Tim H. gerät zwischen die Fronten. Am Ende liegt er tot auf einem Platz in der
Hafenstadt Misrata. Das tragische Schicksal eines Kollegen, mit dem sie auf Reportagereise gewesen ist,
wird für Gabriele Riedle zum Ausgangspunkt ihres neuen Romans.
Die deutsche Autorin hat erst als Kulturredakteurin und danach als Krisenreporterin aus allen Winkeln der Welt berichtet, bis sie zur Romanautorin geworden ist. Im neuen Buch schreibt sie keine journalistische Reportage; es geht darin um
die Bedingungen, unter denen heutzutage Reportagen entstehen, die unser Bild von der Welt formen.
Viele Details aus Gabriele Riedles Leben als Krisenreporterin fließen ein; eine Art Autobiografie ist es dennoch nicht geworden.
Ihr Buch soll, wie die Apostrophierung als „Abenteuerroman“andeutet, ein Stück Literatur sein.
Von Fiktion kann nicht die Rede sein; dafür ist Riedle noch immer zu sehr Reporterin, die zeigen will, was
geschieht und was geschehen ist. Literarisch ist hier in erster Linie die
Art der Darstellung. Sie soll in der Manier von Thomas Bernhard zuspitzen und übertreiben, um Dinge
kenntlich zu machen. Der „kampferprobte Sarkasmus“, den die Autorin einer Gesprächspartnerin in der Kaukasusrepublik Inguschetien attestiert, ist ihr Schreibgestus. In
einer atemlosen Prosa reiht sich Assoziation an Assoziation. So entwickelt der Text einen Sog.
Dieses Buch erscheint als eine nicht enden wollende Klage über den heillosen Zustand der Welt, die „direkt aus der Hölle der Gegenwart“kommt. Die Darstellung hat verschiedene Adressaten. Zuerst geraten die politischen Akteure ins Blickfeld: Die westlichen Mächte
wollen der Welt „Freiheit und Fortschritt“bringen, haben aber vor allem eigene Interessen im Auge und hinterlassen bei ihren Interventionen Chaos. Nicht besser sind Gegenspieler wie die Taliban, die „Fürsten der Finsternis“in Afghanistan, die auf Gewalt und Terror setzen. Zweitens geht es um wirtschaftliche Profiteure der Globalisierung mit rücksichtslosem Streben
nach Gewinn, bei dem die „Ausbeuter des weltweiten Westens“oft zusammenspielen mit nicht minder ausbeuterischen Warlords im globalen Süden.
Vor allem aber ist dieses Buch eine kritische Abrechnung mit den Machern der Medienbranche – mit den Chefredakteuren, die gegen schwindende Auflagen
kämpfen und Reporter in Krisenregionen schicken, um den Durst des Publikums nach Unterhaltung zu stillen; aber auch mit den Reportern, die sich für solche Dienste einspannen lassen und
von einem Krisenschauplatz zum nächsten ziehen, obschon sie daran zweifeln, über Klischees hinaus ein wahrheitsgetreues Bild liefern zu können.
Entlarvend ist, was Gabriele Riedle an Geschichten bietet. In Kabul begegnet die Ich-Erzählerin einem Mann, der trotz des offiziellen Bilderverbots ein Fotostudio betreibt, weil das Regime der Taliban Passbilder für Ausweispapiere benötigt. Komisch ist, wie diese Erzählerin ihre Begegnungen schildert – zum Beispiel die mit dem berühmten Reporterkollegen Peter Arnett, der für Fernsehzuschauer weltweit einst über den ersten Irakkrieg der US-Amerikaner berichtet hat
und jetzt in Afghanistan „die Rolle der Legende“spielt.
Gabriele Riedle regt das Nachdenken darüber an, wie wir eine
Welt beschreiben könnten, die in Splitter zu zerfallen droht. Dieses Buch stelle fundamentale Fragen, hat der Schweizer Autor Lukas Bärfuss bemerkt. Wir müssten überlegen, was wir wüssten
von der Welt; davon hingen politische Entscheidungen ab.
Wie beschreiben wir eine zerfallende Welt?