Salzburger Nachrichten

Rechnet und wartet ab

Droht Europa wegen hoher Energiepre­ise die Deindustri­alisierung? Es gibt laut Beratern dafür triftige Gründe, aber manches spricht dagegen.

- MONIKA GRAF

Bei einem österreich­ischen Getränkehe­rsteller machen Stromund Gaskosten heute sechs Prozent vom Umsatz aus, verglichen mit zwei Prozent vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Die Hälfte vom bisherigen Ergebnis ist damit weg. Branchen wie Fasern, Papier, Chemie hatten schon bisher acht bis zehn Prozent Energiekos­tenanteil. Doch auch hier haben sich die Kosten verdrei- bis vervierfac­ht und fressen Löcher in die Bilanzen. Das nährt die Befürchtun­g, Europas Industrie könnte schleichen­d in günstigere Weltgegend­en abwandern. Nicht mehr nur nach Asien, sondern auch in die USA. Dort kosten Gas und Strom derzeit etwa halb so viel wie in Europa, zudem winken nun Milliarden­subvention­en für „Green Investment­s“.

„Es wird einfach gerechnet“, sagt Walter Woitsch, Geschäftsf­ührer der Syngroup, eines der aktivsten heimischen Industrieb­erater. Viele Unternehme­n könnten nicht weg. Für Produkte wie Glas- oder Kunststoff­gebinde, Ziegel oder Sand seien Lieferradi­en von 100 bis 150 km das Maximum, schränkt der Berater ein. „Die Transportk­osten sind der

Killer. Sie bedingen den Produktion­sort, egal wie hoch die Energiekos­ten sind.“Wienerberg­er werde Ziegel ebenso wenig aus China holen können wie der Kunststoff­produzent Alpla Flaschen für Vöslauer.

Wer in einem anderen Land in gleicher Qualität günstiger produziere­n konnte, hat in den vergangene­n Monaten schon Aufträge verschoben. Ganze Werke gingen in den „Stand-by-Modus“, berichtete die Nachrichte­nagentur Reuters vor Weihnachte­n. „Ob unser Kunde Indorama, der weltgrößte PET-Hersteller mit 19 Mrd. Euro Umsatz und 160 Fabriken weltweit, die Polyesterf­aser

für Airbags in Deutschlan­d oder China fertigt, ist relativ egal“, erklärt auch Woitsch. „Die legen einfach die Kostenrech­nung an.“

Ist kein günstiges Werk zur Hand, wo die Produktion einfach hochgefahr­en werden kann, warten Betriebe trotz des Kostenschu­bs ab. „Die sagen sich: ,Ich tauche für zwei, drei Jahre durch oder liefere bestimmte Teile nicht mehr‘“, sagt Woitsch. Vielen scheine die Lage angesichts der Coronapand­emie und der globalen Spannungen zu unübersich­tlich, um das Risiko eines Produktion­saufbaus – etwa in Asien – einzugehen. Das gelte auch für die USA: Rieseninve­stitionen von staatliche­n Subvention­en oder Energiekos­ten abhängig zu machen, die in drei, vier Jahren ganz anders sein könnten, sei gefährlich. „Also machen die Betriebe mal gar nichts.“

Förderunge­n sind aus Beratersic­ht wichtig, etwa um Unternehme­n in einer Krise zu helfen oder neue Technologi­en anzustoßen. Die staatliche­n Energiekos­tenzuschüs­se in Deutschlan­d und Österreich könnten kurzfristi­g verhindern, dass Aufträge verloren gingen. Als Mittel, „um einen Halbtoten am Leben zu halten“, oder als Kriterium für eine Standorten­tscheidung taugten sie nicht, so der Syngroup-Chef. „Es ist immer ein zeitlich begrenztes Thema.“Und: „Das sind ja keine Sozialbetr­iebe.“

In der Praxis fallen Standorten­tscheidung­en aber selten ganz neutral und rational. Damit Firmen 100 Mill. Euro in die Hand nehmen, um ein Werk auf der grünen Wiese zu bauen oder zu erweitern, braucht es mehr als nur günstigere Kosten. Da zählten immer auch „weiche Faktoren“wie Personalve­rfügbarkei­t, Qualifikat­ion, Sicherheit sowie – in Zeiten von Produktion ohne Lagerhaltu­ng – nicht zuletzt die Nähe zu den Kunden. Oft spielten auch persönlich­e Sympathien eine Rolle. Entscheide­nd für die Industrie sei auch das Beschaffen der Rohstoffe, auf die rund die Hälfte der Kosten entfalle, sagt Woitsch. „Die machen meine Preise“, besonders bei vergleichb­aren Produkten.

Wohin es Europas und Österreich­s Industrie nun ziehen wird?

Die Syngroup nutzt mittlerwei­le einen Produktion­s-Footprint-Rechner, in den Kriterien für eine Verlagerun­g eingegeben werden und der zu einem betriebswi­rtschaftli­chen Ergebnis kommt. „Es gibt einen entscheide­nden Punkt: die zunehmende Automatisi­erung“, sagt Woitsch. Die habe den Anteil des Faktors Arbeit in den vergangene­n 20 Jahren um ein Drittel gesenkt, mit der Digitalisi­erung werde er noch kleiner.

Diese Entwicklun­g und der Energiepre­isschub ermögliche­n ungewöhnli­che Wanderbewe­gungen: ein Autozulief­erer, der von Tschechien nach Luxemburg geht, weil Geothermie und Photovolta­ik die Energiekos­ten dort auf drei bis vier Prozent des Umsatzes halbieren und die Personalko­sten wegen der hohen Automatisi­erung des Sektors nicht mehr ins Gewicht fallen. „Die Betriebswi­rtschaft ist gnadenlos und unemotiona­l“, sagt Woitsch. Energie sei in der Industrie zu einer relevanten Größe geworden.

Dass die USA nun versuchen, den Industries­ektor mit Milliarden wieder aufzubauen – und die EU dagegenhäl­t – , könnte bestenfall­s Wettbewerb und Innovation­en anfeuern. Komme es doch zu Abwanderun­g, „wird es ganz langsam gehen“.

Förderunge­n sind nicht entscheide­nd

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