Es ist Zeit, meinen Hut zu ziehen
Man muss kein Fan von Novak Djoković sein, um seine herausragenden Fähigkeiten würdigen zu können. Dazu gehört auch eine besondere Stärke: Er kann seinen Gegnern die Stärken nehmen wie niemand jemals zuvor.
Es war kein ganz großes Finale, das uns Novak Djoković und Stefanos Tsitsipas in Melbourne gezeigt haben, so ehrlich muss man sein. Zu viele Aufs und Abs, leichte Fehler bei wichtigen Punkten, vor allem Ende des zweiten Satzes, und letztlich war es auch zu einseitig. Kann sein, dass die Ära der epischen Endspiele vorläufig überhaupt vorbei ist. Dafür sind große Rivalitäten auf Augenhöhe nötig, wie das bei Agassi und Sampras war, bei Becker, Edberg und Lendl oder in der größten Zeit, die das Herrentennis je hatte: der Ära Federer, Nadal, Djoković, mit Murray und Wawrinka in prägenden Gastauftritten.
Tsitsipas hat sich über den Winter weiterentwickelt, ja, er hat offensichtlich vor allem an seiner Rückhand gearbeitet. Aber er ist noch nicht auf dem Niveau von Djoković. Das gilt auch und verstärkt für die anderen Jungen, die die nächsten Jahre prägen sollen, Ruud, Aliassime, Rune, Sinner. Sie sind einfach noch nicht so weit, dass sie bei den größten Turnieren in den größten Momenten unter dem größten psychischen und physischen Druck beständig Höchstleistungen abrufen können. Alcaraz, der große Abwesende in Melbourne? Ein herausragender Spieler, ja, aber ob er Djoković schon auf Augenhöhe begegnet? Ich habe noch meine Zweifel. Alcaraz hat beim Aufstieg begeistert; am Gipfel zu stehen und sich dort zu behaupten ist eine neue Herausforderung. Wir werden 2023 sehen, wie er sie bewältigt.
Jetzt ist aber ohnehin nicht die Zeit, über andere Spieler zu sprechen. Jetzt gehört die Bühne ganz allein Novak Djoković. Er hat die Australian Open zur One-Man-Show gemacht wie kaum jemand vor ihm. Es ist höchste Zeit, sich vor diesem Athleten zu verneigen, egal ob man ihn sympathisch findet oder nicht, ob man seine Art der Selbstdarstellung mag oder nicht. Meinen persönlichen Geschmack trifft er damit nicht, aber es ist irrelevant, wie man ihn persönlich einschätzt: Seine sportlichen Leistungen verdienen so viel Respekt, dass sie alles andere in den Schatten stellen. 22 GrandSlam-Titel zu gewinnen, und das in der größten Ära des Welttennis, mit den stärksten Rivalen, die es je gab – eine unfassbare Leistung. Ob er der größte Spieler aller Zeiten ist? Seit Sonntag gibt es, wenn man die Antwort allein in Zahlen, Daten und Statistiken sucht, nur mehr eine Antwort: Ja.
Was Djoković darüber hinaus ist: der aktuell wichtigste Mann im und fürs Tennis. Er führt und repräsentiert unseren Sport, er drückt ihm
seinen Stempel auf, er hält das Interesse auch bei jenem Teil der Öffentlichkeit aufrecht, die keine Tennis-Insider sind. Jeder Sport braucht solche Persönlichkeiten, um sich im Kampf um öffentliche Präsenz und Relevanz zu behaupten. Wir im Tennis haben Djoković und – wenn er fit genug ist für große Erfolge – Nadal.
Viele Leute fragen mich, was Djoković als Tennisspieler so herausragend gut macht. Seine Qualitäten sind nicht so offensichtlich wie die Brachialität eines Nadal oder die Eleganz eines Federer. Aber wenn Sie zehn Profis nach ihrem unangenehmsten Gegner fragen, sagen acht: Djoković.
Das liegt daran, dass Djoković eine Fähigkeit perfektioniert hat wie nie jemand zuvor auf diesem Level: „He makes you play bad“, heißt es auf der Tour über ihn, er macht dich zu einem schlechteren Spieler. Durch seinen sensationellen Return, durch die Länge seiner Grundschläge – die außerdem sehr flach sind und sich für den Gegner fast so anfühlen, als würden sie wegrutschen – und durch seine genialen Qualitäten in der Defensive zwingt er seinen Gegner in einen sehr engen Korridor an spielerischen und taktischen Möglichkeiten.
Gegen keinen anderen ist Aufschlag-Volley so schwierig, kein anderer verteidigt Netzangriffe so souverän wie Djoković: Er reduziert dein Spiel auf jenen Teil deines Repertoires, mit dem du ihm nicht wehtun kannst.
Was dazukommt, ist Djoković’ einzigartige physische Verfassung. Vor allem die Beweglichkeit und Elastizität stechen hervor, die er sich durch tagtägliche Konsequenz in der Trainingsarbeit erhält, auch als 35-Jähriger. Diese Beweglichkeit, verbunden mit hervorragender Schlagtechnik, lässt ihn auch sehr schnell spielen. Was viele Tennis-Fans nicht wissen: Die Schnelligkeit von Schlägen ist nicht das Ergebnis roher Kraft, sondern einer mit ausgefeilter Technik genutzten Bewegungsamplitude. Tennis ist ein Schwungsport, kein Kraftsport, Djoković ist dafür ein idealer Beleg.
Zum Abschluss meiner Djoković-Würdigung ein kleiner Hinweis: Durch die aktuelle Umbruchsituation im Herrentennis sind die Chancen des Serben auf den Grand Slam im Jahr 2023 größer denn je zuvor in seiner Karriere. Er wird auch in Paris, Wimbledon und New York als Favorit ins Turnier gehen.
Mit dem Finalwochenende in Melbourne ist die Startphase der neuen Saison beendet. Mein Resümee? Dass den Jungen noch einiges zur Spitze fehlt, haben sie eindrucksvoller bewiesen, als ihnen das lieb wäre. Positiv überrascht haben mich die US-Spieler. Tiafoe, Korda, Paul, der junge Shelton: Da kommen einige sehr gute Leute nach. Technisch gefällt mir nicht alles, und deswegen sehe ich keinen von ihnen dauerhaft ganz vorne. Aber sie sind fit, schnell, mutig, arbeiten hart, haben mindestens einen wirklich gefährlichen Schlag im Repertoire. Es ist gut fürs Tennis, allein schon aus wirtschaftlicher Sicht, wenn mindestens zwei Amerikaner in den Top 10 und fünf in den Top 20 stehen, und das traue ich den Burschen zu.
Sehr genau beobachtet habe ich auch das Turnier der Damen, das Damentennis befindet sich noch mehr im Umbruchsvakuum als jenes der Herren. Iga Świąteks Überlegenheit macht das deutlich. Sie ist eine fantastisch gute Spielerin, tolle Schläge, bewegt sich großartig. Aber sie ist noch nicht so weit, einen Sport wirklich anzuführen. Elena Rybakina und Aryna Sabalenka haben in Melbourne gezeigt, wohin die Reise im Damentennis geht: beide groß gewachsen, beide wirkliche Big Hitter, mit knallharten, sehr schnellen Schlägen von beiden Seiten. Wie sauber Rybakina den Ball trifft, begeistert mich – wenn sie diese Schläge eines Tages mit verbesserter Beinarbeit auch aus der Defensive einsetzen kann, wird sie Świąteks Vormachtstellung sehr gefährden.
Seine Chancen auf den Grand Slam sind höher als je zuvor