Salzburger Nachrichten

„Schwebende­r“Koch will Leute beflügeln

Die Erfindung eines Duos hilft Menschen, nach einem Unfall weiterhin stehend zu arbeiten. Das Gerät hängt nun in Bayerns größter Unfallklin­ik.

- BARBARA HAIMERL Infos und Videos: WWW.STANDINGOV­ATION.AT

SALZBURG-STADT. Ob in Fachzeitsc­hriften für Physiother­apie und Ergotherap­ie, auf der weltgrößte­n Messe für Reha und Pflege in Düsseldorf oder in einem Podcast mit dem Arbeitsmin­isterium: Wo immer Peter Lammer auftaucht und seine Geschichte erzählt, macht er als „schwebende­r Koch“aus Salzburg Furore.

„Gewinnen ist einmal öfter aufstehen als liegen bleiben“, sagt der 55-Jährige. Sieht man den Wirt im Salzburger Johanneske­ller dank einer ebenso einfachen wie genialen Steh- und Bewegungsh­ilfe zur Entlastung der Beine mit Freude durch die Gastroküch­e sausen, ist schwer vorstellba­r, dass Lammer als Folge eines schweren Motorradun­falls im Jahr 2010 noch Jahre danach schwer depressiv war und keinen Lebenswill­en mehr hatte. „Durch die Höllennach­richt, dass ich wegen der schweren Verletzung­en an den Füßen und Beinen nie wieder in meinem Beruf arbeiten kann, bin ich psychisch in ein Loch gefallen“, erzählt der Koch. Zehn Mal wurde er bis 2013 operiert. Ihm wurde eine Invaliditä­t von 80 Prozent attestiert. „Ich wollte mir meinen Beruf nicht nehmen lassen, nur weil die Füße kaputt sind“, sagt Lammer. Eine Umschulung oder die Frühpensio­n seien nicht nur unbefriedi­gend, sondern für die öffentlich­e Hand viel teurer.

Den Weg zurück in die Küche und zu Lebensfreu­de schaffte Lammer 2016 mit der Unterstütz­ung

seines Freundes Bernhard Tichy. „Nach Jahren der vergeblich­en Suche hat Peter mich gedrängt, eine Lösung zu finden“, schildert Tichy und zitiert den legendären Satz, mit dem Lammer ihn aufrüttelt­e: „Entweder ich hänge mich auf oder du hängst mich auf.“Der gelernte Tischler betreibt die Erlebnissc­hlucht Salzachöfe­n mit dem Flying Fox in Golling und ist zudem Industriek­letterer. Gemeinsam entwickelt­en die beiden das Schwebesys­tem „Standing Ovation“, das seit 2018 in Österreich patentiert und seit 2019 auch als Medizinpro­dukt zertifizie­rt ist. Die AUVA kooperiert eng mit den beiden. Auch in Israel ist das Patent bereits erteilt, in den USA ist es demnächst so weit. So funktionie­rt das System: An Führungssc­hienen über Kopf ist ein C-förmiger Bügel befestigt, an dem ein pneumatisc­her Sattel hängt, den man im Handumdreh­en höher oder tiefer stellen kann. Durch eine gefederte Rotationse­inheit erlaubt das Gerät jede Drehbewegu­ng und ermöglicht ein dreidimens­ionales Bewegungsm­uster. „Es gab bisher kein Gerät, das die Beine komplett entlastet und zugleich ermöglicht, dass beide Hände frei sind“, sagt Tichy. Auch beim Heben komme es zu keiner Mehrbelast­ung der Beine, weil das Gerät die zusätzlich aufgenomme­ne Last übernehme.

Seit Montag ist Bayerns größte Unfallklin­ik in Murnau in der Ergotherap­ie mit dem System ausgestatt­et. „Darauf sind wir richtig stolz“, sagen die beiden. Schwerpunk­t in Murnau ist die Therapie aller Unfallfolg­en. Dazu zählen die Behandlung und Rehabilita­tion nach Polytrauma, Querschnit­tlähmung,

„Ich habe nach dem Unfall wieder zu Lebensfreu­de gefunden.“Peter Lammer, Wirt und Koch

Schädel-HirnTrauma und Amputation. 2017 wurde die erste Anlage in Österreich­s größtem Reha-Zentrum in Bad Häring in Tirol installier­t. 2020 wurde mit dem AKH in Wien ein Leihvertra­g abgeschlos­sen. Seit drei Wochen erleichter­t „Standing Ovation“nach einem schweren Unfall auch einem Koch in St. Pölten das Leben. Sein Arbeitgebe­r wollte ihn in Zeiten

des Fachkräfte­mangels unbedingt behalten. Drei eigenständ­ige Anlagen wurden montiert, weil die Küche so groß ist. Nun überlegt der Chef, allenfalls einen zweiten integrativ­en Arbeitspla­tz zu schaffen. Auch ein Koch in Graz düst seit 2019 nach einem schweren Unfall mit „Standing Ovation“durch die Gastroküch­e. Weil der Betrieb mit einer Inselküche ausgestatt­et ist, hat Tichy eine Kreisbahnl­ösung entwickelt. Auch die Kollegen des Kochs nutzen das System, weil es die Beine entlastet. Die Haftpflich­tversicher­ung des Unfallgegn­ers hat die Kosten übernommen, die AUVA hat für zwei Jahre die Hälfte der Lohnkosten bezahlt.

„Jede der Anlagen, die wir bisher verkauft haben, haben Sozialvers­icherungst­räger zu 100 Prozent finanziert“, betont Tichy und verweist auf das Inklusions­und Teilhabege­setz. „Menschen haben Anspruch auf Gleichbere­chtigung und technische Hilfsmitte­l, die diese Teilhabe ermögliche­n, da gibt es eine breite Förderland­schaft.“Die beiden appelliere­n, sich bei Interesse zu melden. „Ich lade alle ein, mir beim Arbeiten zuzuschaue­n und eine Probefahrt zu machen“, sagt Lammer. Für ihn sei das Gerät der „Lebensjack­pot“. Diese Erfahrung wolle er teilen. „Denn ich habe während meines Martyriums viele Menschen kennengele­rnt, die aufgegeben haben.“

Tichy verweist auch darauf, dass „Standing Ovation“Menschen ergonomisc­h unterstütz­t, die Jobs haben, bei denen sie den ganzen Tag stehen und/oder heben müssen. Nicht nur die Beine würden entlastet, sondern auch die Wirbelsäul­e. „Das gilt für alle stehenden Berufe, egal ob die Leute im Verkauf tätig sind, am Förderband stehen oder Montagearb­eiten erledigen.“

 ?? ??
 ?? BILD: SN/WWW.NEUMAYR.CC ?? Der Tischler und Schluchten­führer und der Koch: Bernhard Tichy (l.) und Peter Lammer sind ein unschlagba­res Team. Sie haben das Gerät „Standing Ovation“entwickelt. Lammer „fliegt“damit durch seine Gastroküch­e.
BILD: SN/WWW.NEUMAYR.CC Der Tischler und Schluchten­führer und der Koch: Bernhard Tichy (l.) und Peter Lammer sind ein unschlagba­res Team. Sie haben das Gerät „Standing Ovation“entwickelt. Lammer „fliegt“damit durch seine Gastroküch­e.

Newspapers in German

Newspapers from Austria