Hat Gustav Klimt abgeschaut?
Nähme man alle Bilder im Unteren Belvedere und ließe eine ChatGPT-ähnliche künstliche Intelligenz drüberlaufen, käme dann ein neues Werk Gustav Klimts heraus?
Körperhaltung und Frisur sind fast ident, die Blickrichtung ist gleich, die Farben und das auffallend hohe Format sind ähnlich. Und Gustav Klimt, Jupiter der Kunstszene von Wien um 1900, hat das berüchtigte Gemälde von John Singer Sargent höchstwahrscheinlich gekannt, hatte es doch 1884 in Paris einen Skandal ausgelöst: Darf man eine Dame so malen, dass ihr offenbar demnächst der Träger von der Schulter rutschen könnte, auf dass das gesamte Kleid fällt?
Hat Gustav Klimt die Essenz der Komposition für sein „Frauenbildnis“abgeschaut? Markus Fellinger, Kurator der neuen Ausstellung im Unteren Belvedere in Wien, geht noch weiter: Wo könnte Klimt etwas kopiert, übernommen oder gestohlen haben? Diese Frage liegt nahe, gönnt man sich das Sehvergnügen, das „Klimt – inspiriert von van Gogh, Rodin, Matisse …“durch Vergleiche von Klimts Bildern mit jenen der damaligen westeuropäischen Avantgarde eröffnet. Tatsächlich bestehe die Gefahr, Klimts Reputation als grandios Einzigartiger zu unterminieren, konzedierte Markus Fellinger im Pressegespräch am Donnerstag. Aber die Ausstellung, die einem 2015 begonnenen Forschungsprojekt von Belvedere und Amsterdamer Van-Gogh-Museum folge, ergründe eine andere Frage: Welche Kunst hat Klimt interessiert, was hat ihn beeindruckt, wovon ließ er sich inspirieren?
Künstler seien typischerweise „beste Kenner“von Werken ihrer Zeitgenossen und hätten einen „forschenden und verständnisvollen Blick auf andere Kunst“, sagte Direktorin Stella Rollig. Daher sei es reizvoll, am Beispiel Gustav Klimts die Wahrnehmung von Kunst und deren Weiterentwicklung zu erforschen. Weil es meist dafür „keine
primären Quellen“– wie Notizen oder Tagebücher – gebe, seien Archive und einstige Ausstellungskataloge nach Hinweisen durchforstet worden, um über Klimts Inspirationsquellen „schlüssige und belastbare Aussagen“zu treffen.
Die neue Ausstellung konzentriert sich auf Klimts westeuropäische Einflüsse, nicht auf Ostasiatisches oder Antikes, schränkt Markus Fellinger ein. Und er versichert: Gustav Klimt habe sich im Zuge dieser Recherchen als weltoffener, kreativ denkender, überaus innovativer Künstler erwiesen, „der sich immer wieder neu erfunden hat“. Allein wie er Blattgold und Muster eingesetzt hat, war zu seiner Zeit einzigartig. Sein Erfindergeist ist
auch an den zwei Frauenbildern abzulesen. Klimt hat einen neuen Duktus kreiert: Das Laszive der Pariserin ist in bürgerliche Anmut umformuliert, das rüd Unfertige in makellose Eleganz. Beide Bilder vermitteln Offenheit: das eine über das unfertig Skizzierte, das andere über den raffiniert schmalen Spalt in unbestimmbarem Hintergrund.
Im Kabinett im Unteren Belvedere, in dem die zwei Frauen, die ähnlichen Farben ihrer Dekolletés und die Unterschiede des Gesamteindrucks – beide sind Öl auf Leinwand – in heimeliger Nähe zu vergleichen sind, regen noch drei kleine Gemälde zum Schauen an. Ein „Mädchen im Grünen“von 1898 könnte dieselbe Frau wie im vier Jahre älteren „Frauenbildnis“zeigen, nur 90 Grad gewendet, in weißer Bluse mit ähnlichen Puffärmeln, mit Sonnenhut, im Freien. Klimt hat also offensichtlich eigene Bildideen weitergesponnen – anders gesagt: von sich selber abgemalt.
Viele Vergleiche sind dank famoser Leihgaben – aus Amsterdam, Leeds oder San Francisco – frappierend: An einer Wand hängen links Claude Monets „Arm der Seine bei Giverny im Nebel“von 1897 und rechts Fernand Khnopffs „Unbewegtes Wasser“von 1894. Für „Ein Morgen am Teich“von 1899, in deren Mitte, hat Gustav Klimt möglicherweise vom Franzosen Himmelsfarben sowie vom Belgier Töne des Waldes und Spiegelung abgeschaut. Aber er hat diese Symbiose zugleich krasser wie harmonischer gestaltet. Und erst ein Eck weiter! In „Seeufer mit Birken“von 1901 setzt Klimt gespiegelten Himmel und Blumenwiese nebeneinander. Weil Baumkronen fehlen, wäre in dieser Licht- und Farbenpracht unklar: Wo unten, wo oben, wo Wasser, wo Land? Zwei dünne Birkenstämme geben Halt und Orientierung.
Erstmals seit 60 Jahren ist das sonst in einer Privatsammlung verwahrte Gemälde „Wasserschlangen II“in Wien ausgestellt. Stella Rollig erläuterte, dass die „enorm hohe“Versicherungssumme dafür das Limit der Staatshaftung übersteige, trotzdem sei ein Weg gefunden worden, dies zu ermöglichen. So kann man nun die augenfällige Verwandtschaft mit zwei bestickten Tafeln der in Wien um 1900 berühmten Britin Margaret Macdonald Mackintosh erkennen.
Ausstellung: „Klimt – inspiriert von van Gogh, Rodin, Matisse …“, Unteres Belvedere, Wien, bis 29. 5.