Chaoten mit Bildungsauftrag
Ein Plädoyer gegen die Perfektion. Wie musikalische Dilettanten aus Frankreich und Venezuela seit Jahrzehnten die Welt beglücken.
ie etwa 20 jungen Franzosen beziehen Stellung auf dem Place Gabriel im alten Hafen von Marseille. Dann geht es los: Wie ein Sturm bricht ein unerhörter Sound los. Passanten bleiben wie angewurzelt stehen. Sie bilden, wie an einer unsichtbaren Schnur gezogen, einen Halbkreis vor den Musikern. Das Feuilleton würde naserümpfend von einem musikalischen Inferno schreiben. Aber langsam groovt sich der wild experimentierende Haufen ein. Die Saxofone, Posaunen, Trommeln, Pauken, Trompeten und die Tuba finden ihre Linie. Jetzt erkennt man sogar eine Melodie. Das ist doch – ja, genau – das ist „What is Love“(Baby don’t hurt me no more). Das ist Pop von Haddaway. Man kennt die Disconummer sonst nur glatt- und weichgespült. Eine Handvoll Kinder beginnt, wie von Taranteln gestochen, vor den Musikern ausgelassen zu tanzen. Mit jedem falschen Ton, den die Erwachsenen aus dem Vorort von sich geben, schütteln sie sich mehr vor lauter lautem Lachen. Kurz: Aus Dilettantismus wird eine Zirkusnummer, zu der Musiker und Passanten gleichermaßen beitragen.
Der chaotische Auftritt der engagierten Laienmusiker wurde aber von langer, ruhiger Hand geplant. Das ist aber schon das Einzige, was an diesen Darbietungen halbwegs organisiert wurde. Die spontanen Auftritte finden seit Jahren in so gut wie allen französischen Metropolen statt. Das Repertoire der bunt zusammengewürfelten Ensembles reicht von Balkansounds bis zu Pop- und Rocksongs, die sie ihren ungehemmten Arrangements unterzogen haben. Was nur wenige wissen: Hinter dem künstlerischen Chaos steht das französische Kulturministerium. Das Ziel war, jungen Menschen in den Vororten Perspektiven zu vermitteln. Interessierte erhalten leihweise Instrumente, mit denen sie in Musikschulen an Workshops das kleine ABC der
Brassmusik erlernen können. Sobald sie einigermaßen fit für einen Auftritt sind, erhalten sie unbürokratisch die Gelegenheit, ihr Können in den Zentren der Großstädte zu präsentieren. Dort tanzen dann alle zu diesem fehlerhaften, aber lebenslustigen Sound der Abgehängten: Einheimische, Touristen, Kinder, Roma, Polizisten und auch die Fischer am Hafenbecken zeigen interessante Moves. Der Name dieser Aktion des Kulturministeriums heißt Fanfare Plan. Mitfinanziert wird sie von der Nationalen Agentur für den Zusammenhalt der Gebiete (ANCT). Letztere kümmert sich um die Verknüpfung und den Austausch der Metropolen mit dem ländlichen Bereich und um die Kooperation mit ausländischen Ensembles. Etwa mit der kunterbunten Kasseler Brassband Blech und Schwefel.
Erfunden haben die Franzosen dieses System nicht. In Venezuela gibt es bereits seit Jahrzehnten ein Projekt namens El Sistema, dank dem heute mehr als 400.000 Kinder in den dortigen Slums Geige spielen. Ein weltberühmter Pariser Musiker hat an diese Einstellung angeknüpft, weil er in ähnlichen Verhältnissen aufwuchs. Gemeint ist der im Pariser Vorort Sévres aufgewachsene Manu Chao, dessen Band Mano Negra in der Metro von einem Mitarbeiter der Plattenfirma EMI entdeckt wurde. Der beschrieb das Erlebte so: „Von denen kann kein Einziger ein Instrument spielen. Aber das machen sie richtig gut.“
Vor etwa 15 Jahren hat der französische Staat mit der Agentur Bureaux Export de la Musique francaise die Förderung von Musikern, die gegen den Strom schwimmen, institutionalisiert. Neben der Förderung bereits bekannter französischer Musiker im Ausland kümmert sich diese Agentur vor allem um Künstler, die unter den Begriff Weltmusik fallen. Also vornehmlich afrikanische, arabische, asiatische und lateinamerikanische Künstler, die ohne die Hilfe des Exportbüros keine Lobby für ihre originäre Musik hätten. Auch die Malquíades von Manu Chao waren ein chaotisches, vom französischen Staat gefördertes Projekt. Da brach Manu Chao auf einem Frachtschiff nach Lateinamerika auf, um damit in über 100 Häfen in acht Ländern anzulegen und dort das Laissez-faire der französischen Kultur in Form von Ausstellungen, Präsentationen, Schauspiel und Konzerten zu vermitteln. Dieses Erfolgsrezept ist eigentlich ziemlich simpel: Wenn die ganze Welt nach Perfektion sucht, kann man als Abgehängter nur noch punkten, wenn man stolz auf seine Fehler ist – sofern sie aus der puren Lust am Leben passiert sind. Oder: en passant.