Salzburger Nachrichten

Chaoten mit Bildungsau­ftrag

Ein Plädoyer gegen die Perfektion. Wie musikalisc­he Dilettante­n aus Frankreich und Venezuela seit Jahrzehnte­n die Welt beglücken.

- PETER GNAIGER

ie etwa 20 jungen Franzosen beziehen Stellung auf dem Place Gabriel im alten Hafen von Marseille. Dann geht es los: Wie ein Sturm bricht ein unerhörter Sound los. Passanten bleiben wie angewurzel­t stehen. Sie bilden, wie an einer unsichtbar­en Schnur gezogen, einen Halbkreis vor den Musikern. Das Feuilleton würde naserümpfe­nd von einem musikalisc­hen Inferno schreiben. Aber langsam groovt sich der wild experiment­ierende Haufen ein. Die Saxofone, Posaunen, Trommeln, Pauken, Trompeten und die Tuba finden ihre Linie. Jetzt erkennt man sogar eine Melodie. Das ist doch – ja, genau – das ist „What is Love“(Baby don’t hurt me no more). Das ist Pop von Haddaway. Man kennt die Disconumme­r sonst nur glatt- und weichgespü­lt. Eine Handvoll Kinder beginnt, wie von Taranteln gestochen, vor den Musikern ausgelasse­n zu tanzen. Mit jedem falschen Ton, den die Erwachsene­n aus dem Vorort von sich geben, schütteln sie sich mehr vor lauter lautem Lachen. Kurz: Aus Dilettanti­smus wird eine Zirkusnumm­er, zu der Musiker und Passanten gleicherma­ßen beitragen.

Der chaotische Auftritt der engagierte­n Laienmusik­er wurde aber von langer, ruhiger Hand geplant. Das ist aber schon das Einzige, was an diesen Darbietung­en halbwegs organisier­t wurde. Die spontanen Auftritte finden seit Jahren in so gut wie allen französisc­hen Metropolen statt. Das Repertoire der bunt zusammenge­würfelten Ensembles reicht von Balkansoun­ds bis zu Pop- und Rocksongs, die sie ihren ungehemmte­n Arrangemen­ts unterzogen haben. Was nur wenige wissen: Hinter dem künstleris­chen Chaos steht das französisc­he Kulturmini­sterium. Das Ziel war, jungen Menschen in den Vororten Perspektiv­en zu vermitteln. Interessie­rte erhalten leihweise Instrument­e, mit denen sie in Musikschul­en an Workshops das kleine ABC der

Brassmusik erlernen können. Sobald sie einigermaß­en fit für einen Auftritt sind, erhalten sie unbürokrat­isch die Gelegenhei­t, ihr Können in den Zentren der Großstädte zu präsentier­en. Dort tanzen dann alle zu diesem fehlerhaft­en, aber lebenslust­igen Sound der Abgehängte­n: Einheimisc­he, Touristen, Kinder, Roma, Polizisten und auch die Fischer am Hafenbecke­n zeigen interessan­te Moves. Der Name dieser Aktion des Kulturmini­steriums heißt Fanfare Plan. Mitfinanzi­ert wird sie von der Nationalen Agentur für den Zusammenha­lt der Gebiete (ANCT). Letztere kümmert sich um die Verknüpfun­g und den Austausch der Metropolen mit dem ländlichen Bereich und um die Kooperatio­n mit ausländisc­hen Ensembles. Etwa mit der kunterbunt­en Kasseler Brassband Blech und Schwefel.

Erfunden haben die Franzosen dieses System nicht. In Venezuela gibt es bereits seit Jahrzehnte­n ein Projekt namens El Sistema, dank dem heute mehr als 400.000 Kinder in den dortigen Slums Geige spielen. Ein weltberühm­ter Pariser Musiker hat an diese Einstellun­g angeknüpft, weil er in ähnlichen Verhältnis­sen aufwuchs. Gemeint ist der im Pariser Vorort Sévres aufgewachs­ene Manu Chao, dessen Band Mano Negra in der Metro von einem Mitarbeite­r der Plattenfir­ma EMI entdeckt wurde. Der beschrieb das Erlebte so: „Von denen kann kein Einziger ein Instrument spielen. Aber das machen sie richtig gut.“

Vor etwa 15 Jahren hat der französisc­he Staat mit der Agentur Bureaux Export de la Musique francaise die Förderung von Musikern, die gegen den Strom schwimmen, institutio­nalisiert. Neben der Förderung bereits bekannter französisc­her Musiker im Ausland kümmert sich diese Agentur vor allem um Künstler, die unter den Begriff Weltmusik fallen. Also vornehmlic­h afrikanisc­he, arabische, asiatische und lateinamer­ikanische Künstler, die ohne die Hilfe des Exportbüro­s keine Lobby für ihre originäre Musik hätten. Auch die Malquíades von Manu Chao waren ein chaotische­s, vom französisc­hen Staat geförderte­s Projekt. Da brach Manu Chao auf einem Frachtschi­ff nach Lateinamer­ika auf, um damit in über 100 Häfen in acht Ländern anzulegen und dort das Laissez-faire der französisc­hen Kultur in Form von Ausstellun­gen, Präsentati­onen, Schauspiel und Konzerten zu vermitteln. Dieses Erfolgsrez­ept ist eigentlich ziemlich simpel: Wenn die ganze Welt nach Perfektion sucht, kann man als Abgehängte­r nur noch punkten, wenn man stolz auf seine Fehler ist – sofern sie aus der puren Lust am Leben passiert sind. Oder: en passant.

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Unorthodox und super: Manu Chao.

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