Mit alten Mustern in neues Unheil
Die Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas kommen kaum voran. Es zeigt: Selbst in Anbetracht multipler humanitärer Katastrophen scheinen die Entscheidungsträger auf beiden Seiten keine Veränderung zu wollen.
Das Leben der Menschen in Israel und im Gazastreifen wird nach dem 7. Oktober nie wieder so sein wie davor. Das gilt wenigstens für jene, die am 7. Oktober oder danach ihr Leben nicht gewaltsam verloren haben. Nichtsdestotrotz scheinen die Entscheidungsträger beider Seiten von sich und ihren Methoden überzeugt zu sein und unbeirrt daran festhalten zu wollen. Dieser Umstand kommt in den verfahrenen Verhandlungen zu einem neuen Geisel-Deal zwischen Israel und der Hamas zum Ausdruck.
Die Hamas fordert einen permanenten Waffenstillstand und die Enthaftung einer hohen Zahl schwer belasteter palästinensischer Terrorhäftlinge aus israelischen Gefängnissen. Im Fall einer solchen Vereinbarung droht der Rechts-außen-Rand von Netanjahus Regierung damit, seine Koalition zu sprengen. Das will Netanjahu unbedingt vermeiden. Nur keine Neuwahlen. Es soll bleiben, wie es ist. Stattdessen soll bald eine Offensive auf die Stadt Rafah beginnen – die letzte Hochburg der Hamas und gleichzeitig letzter Zufluchtsort für mehr als eine Million geflüchtete Palästinenser.
Aus Sorge um die vielen geflüchteten Zivilisten in und um Rafah gibt es scharfe Kritik an Israels Plänen und ungewöhnlich deutliche Ablehnung sogar von Israels Verbündeten, allen voran den USA. Auch das österreichische Außenministerium zeigt sich besorgt und fordert den Schutz der Zivilbevölkerung. Vor diesem Hintergrund rufen die Vertreter zahlreicher Staaten – der USA, EU-Staaten und gemäßigter Staaten in der Region – dazu auf, den Krieg schrittweise zu beenden und an einer Zweistaatenlösung zu arbeiten. Doch mit wem?
Mit Netanjahu und seiner ultrarechten Regierung wird das wohl nicht möglich sein. Das hat der Ministerpräsident zuletzt in einer Pressekonferenz am 21. Jänner klargemacht: Auch in Zukunft solle Israel die Sicherheitskontrolle über das gesamte Gebiet westlich des Jordans halten. Das sei nun einmal nicht mit palästinensischer Souveränität vereinbar, so Netanjahu.
Während diese Aussagen Netanjahus in der Berichterstattung über den Gazakrieg großen Widerhall gefunden haben, hat ein Beitrag des kuwaitischen Podcasters Ammar Taqi in der Woche vor Netanjahus Pressekonferenz für weniger Reaktionen gesorgt. In einem dreiteiligen, insgesamt sechsstündigen Podcast war Chaled Maschal, der im katarischen Exil lebende Auslandschef und Politbüro-Führer der Hamas, zu Gast – mit seiner Sicht auf den 7. Oktober und seiner Vision für die Zukunft.
Laut Maschal haben einige Anhänger der Hamas befürchtet, dass die Organisation mit ihrer gewalttätigen Machtübernahme im Gazastreifen im Jahr 2007 den Weg in die Realpolitik eingeschlagen habe – und sich damit langsam mäßigen würde. Der 7. Oktober habe diesen Zweiflern klargemacht: Die Hamas sei nicht am Regieren per se interessiert. Die Machtübernahme in Gaza habe dem Ziel gedient, die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen, um eine militärische Infrastruktur aus Waffen und Tunneln zu entwickeln, um Israel angreifen zu können. Die Herrschaft der Hamas in Gaza sei nie ein ziviles, sondern immer ein militärisches Projekt gewesen.
Weiters bezieht sich Maschal auf die auch unter westlichen Vertretern weitverbreitete Ansicht, dass der 7. Oktober in weiterer Konsequenz einen neuen Horizont für eine Lösung des Nahostkonflikts und eine Zweistaatenlösung eröffnen könne. Das sei undenkbar für die Hamas, so Chaled Maschal. Statt einer Zweistaatenlösung und der damit verbundenen Anerkennung Israels sei das Ziel weiterhin die vollständige „Befreiung“Palästinas, Israels Staatsgebiet inbegriffen. Der 7. Oktober sei nur der Anfang der militärischen „Befreiung“Palästinas gewesen und habe gezeigt, dass dieses Ziel realistisch sei.
Ohne es zu beweisen, behauptet Maschal auch, dass eine große Mehrheit der Palästinenser auf eine „Befreiung“Palästinas vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer hoffe, jetzt mehr denn je. Dass die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“(„Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein“) auf US-amerikanischen Universitätscampus und in europäischen Hauptstädten mittlerweile allgegenwärtig sei, erwähnt Maschal in diesem Zusammenhang ebenso. Die katastrophale Lage der Bevölkerung im Gazastreifen seit Israels massiver Gegenoffensive sei der Blutzoll, den die Palästinenser als Märtyrer für die „Befreiung“Palästinas von Israels Existenz zahlen müssten, so Maschal aus seinem sicheren Exil.
Sollte die Hamas also in Gaza den Krieg erfolgreich überstehen, werden Verhandlungen nach Kriegsende für eine friedliche Perspektive nach der Formel der Zweistaatenlösung wohl auch kaum mit der Vision der Hamas vereinbar sein, selbst dann, wenn die internationale Gemeinschaft dieser wenig Aufmerksamkeit widmet. Eine der Lehren aus dem 7. Oktober für viele Beobachter des Nahostkonflikts jedoch ist: Wenn die Hamas mit etwas droht, hat sie durchaus die Absicht, ihre Drohung in die Tat umzusetzen. Man sollte ihr also zuhören.