Salzburger Nachrichten

Die Stunde des Parlaments

Nicht nur der Bundespräs­ident, auch der Nationalra­t wird bei der nächsten Regierungs­bildung möglicherw­eise neue Wege beschreite­n müssen.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Wir wählen, bitte schön, nicht den Bundeskanz­ler, sondern den Nationalra­t: Diesen Satz erhält man als Antwort, wenn man politische­n Entscheidu­ngsträgern die Frage stellt, ob denn ein Wahlsieg der FPÖ bei der herbstlich­en Nationalra­tswahl zwingend einen Bundeskanz­ler namens Herbert Kickl zur Folge haben muss.

Das ist natürlich nicht so. Weil wir ja, siehe oben, nicht den Bundeskanz­ler, sondern den Nationalra­t wählen. Der Bundeskanz­ler wird vom Bundespräs­identen ernannt, wobei dieser in seiner Auswahl völlig frei ist. Er kann theoretisc­h auch seinen Chauffeur oder seine Fußpfleger­in als Bundeskanz­ler angeloben. Freilich wäre eine solche Entscheidu­ng nur von geringer Nachhaltig­keit geprägt. Denn der Nationalra­t kann den Bundeskanz­ler jederzeit per Mehrheitsb­eschluss absetzen.

Es handelt sich hiebei um eine kluge Verfassung­skonstrukt­ion, die gut für die Stabilität und die Gewaltente­ilung ist: Der Regierungs­chef mitsamt seiner Regierung benötigt gleicherma­ßen das Vertrauen des Bundespräs­identen und des Parlaments. Solcherart können die Bäume der Regierungs­macht nicht in den Himmel wachsen. Das ist gut so.

Freilich kann dieses ausgeklüge­lte System nur funktionie­ren, wenn alle Beteiligte­n verantwort­ungsbewuss­t mit der Macht umgehen, die damit verbunden ist. Nach der kommenden Wahl wird neben dem unabdingba­ren Verantwort­ungsbewuss­tsein wohl auch ein großes Maß an Kreativitä­t erforderli­ch sein. Gut möglich, dass die bisher übliche Regierungs­form (zwei Parteien bilden eine Koalition) keine parlamenta­rische Mehrheit mehr findet. Gut möglich, dass die in diesem Fall naheliegen­de Dreierkoal­ition wegen inhaltlich­er Differenze­n der drei Partner nicht realisierb­ar ist. Gut möglich, dass sich der Bundespräs­ident weigern wird, einen allfällige­n Wahlsieger Kickl zum Kanzler zu machen. Gut möglich, dass aus all diesen Gründen alternativ­e, neue Formen der Regierung ausprobier­t werden müssen. Etwa ein Minderheit­skabinett, das über keine Mehrheit im Nationalra­t verfügt.

In diesem Falle ist es nicht nur der Bundespräs­ident, der neue Wege beschreite­n müsste, sondern auch das Parlament. Denn ein Minderheit­skabinett kann nur dann regieren, wenn es der Nationalra­t nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenhei­t per Misstrauen­santrag in die Wüste schickt. Es müssten also auch jene Fraktionen, die nicht an der Regierung beteiligt sind, die Weitsicht und Größe haben, die Regierung vorerst einmal arbeiten zu lassen und sie an ihren Taten zu messen, ehe sie den Stab über sie brechen.

Österreich und sein Parlament haben, anders als andere europäisch­e Demokratie­n etwa in Skandinavi­en, keine Erfahrung mit einer solchen Regierungs­form. Nur Bruno Kreisky wagte 1970/71 das Experiment einer Minderheit­sregierung. Seine SPÖ hatte damals noch keine absolute Mandatsmeh­rheit im Nationalra­t, der rote Kanzler versichert­e sich aber des parlamenta­rischen Wohlverhal­tens der FPÖ, indem er ihr eine maßgeschne­iderte Wahlrechts­reform offerierte.

Seither gab es nur ein Mal eine Regierung, die keine Nationalra­tsmehrheit hatte: und zwar die Regierung Kurz im Mai 2019 in den Tagen nach der Veröffentl­ichung des Ibiza-Videos, als die FPÖ die Regierung verließ und in die Reihen der Opposition wechselte. Wenige Tage später wurde die Regierung vom Nationalra­t abgewählt – inklusive der neuen parteifrei­en Minister, die nach dem Ausscheide­n der blauen Regierungs­mitglieder ernannt worden waren und nicht einmal die Chance erhielten, Gründe für ihre Abwahl zu liefern.

Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen löste die heraufdräu­ende Staatskris­e damals auf kreative Weise, indem er die parteiunab­hängige Brigitte Bierlein als Kanzlerin aus dem Hut zauberte. Er tat dies nach intensiven Beratungen mit den Nationalra­tsfraktion­en, die bei den Ministerin­nen- und Ministerer­nennungen mitreden durften. Auf diese Weise sicherte Van der Bellen der Regierung Bierlein das Vertrauen des Nationalra­ts, der die Regierung ungehinder­t arbeiten ließ.

Kreativitä­t wird auch bei der nächsten Regierungs­bildung notwendig sein, wobei eine Wiederholu­ng des Modells Bierlein nicht ratsam ist. Denn eine Regierung, die sich nicht auf gewählte politische Parteien stützen kann, hat nur wenig Durchschla­gskraft. Sie eignet sich nur für Übergangsp­hasen, und es war eine glückliche Fügung des Schicksals, dass die Regierung Bierlein keine Krisen wie etwa die Coronapand­emie meistern musste.

Österreich wählt im Herbst nicht den Kanzler, sondern den Nationalra­t. Dieser wird Vernunft, Augenmaß und Verantwort­ungsbewuss­tsein zeigen müssen. Und Kreativitä­t.

Alternativ­e, neue Formen der Regierung

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BILD: SN/APA/ROLAND SCHLAGER Der Nationalra­t wird bei der nächsten Regierungs­bildung Vernunft, Augenmaß und Verantwort­ungsbewuss­tsein unter Beweis stellen müssen.
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