Die Stunde des Parlaments
Nicht nur der Bundespräsident, auch der Nationalrat wird bei der nächsten Regierungsbildung möglicherweise neue Wege beschreiten müssen.
Wir wählen, bitte schön, nicht den Bundeskanzler, sondern den Nationalrat: Diesen Satz erhält man als Antwort, wenn man politischen Entscheidungsträgern die Frage stellt, ob denn ein Wahlsieg der FPÖ bei der herbstlichen Nationalratswahl zwingend einen Bundeskanzler namens Herbert Kickl zur Folge haben muss.
Das ist natürlich nicht so. Weil wir ja, siehe oben, nicht den Bundeskanzler, sondern den Nationalrat wählen. Der Bundeskanzler wird vom Bundespräsidenten ernannt, wobei dieser in seiner Auswahl völlig frei ist. Er kann theoretisch auch seinen Chauffeur oder seine Fußpflegerin als Bundeskanzler angeloben. Freilich wäre eine solche Entscheidung nur von geringer Nachhaltigkeit geprägt. Denn der Nationalrat kann den Bundeskanzler jederzeit per Mehrheitsbeschluss absetzen.
Es handelt sich hiebei um eine kluge Verfassungskonstruktion, die gut für die Stabilität und die Gewaltenteilung ist: Der Regierungschef mitsamt seiner Regierung benötigt gleichermaßen das Vertrauen des Bundespräsidenten und des Parlaments. Solcherart können die Bäume der Regierungsmacht nicht in den Himmel wachsen. Das ist gut so.
Freilich kann dieses ausgeklügelte System nur funktionieren, wenn alle Beteiligten verantwortungsbewusst mit der Macht umgehen, die damit verbunden ist. Nach der kommenden Wahl wird neben dem unabdingbaren Verantwortungsbewusstsein wohl auch ein großes Maß an Kreativität erforderlich sein. Gut möglich, dass die bisher übliche Regierungsform (zwei Parteien bilden eine Koalition) keine parlamentarische Mehrheit mehr findet. Gut möglich, dass die in diesem Fall naheliegende Dreierkoalition wegen inhaltlicher Differenzen der drei Partner nicht realisierbar ist. Gut möglich, dass sich der Bundespräsident weigern wird, einen allfälligen Wahlsieger Kickl zum Kanzler zu machen. Gut möglich, dass aus all diesen Gründen alternative, neue Formen der Regierung ausprobiert werden müssen. Etwa ein Minderheitskabinett, das über keine Mehrheit im Nationalrat verfügt.
In diesem Falle ist es nicht nur der Bundespräsident, der neue Wege beschreiten müsste, sondern auch das Parlament. Denn ein Minderheitskabinett kann nur dann regieren, wenn es der Nationalrat nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit per Misstrauensantrag in die Wüste schickt. Es müssten also auch jene Fraktionen, die nicht an der Regierung beteiligt sind, die Weitsicht und Größe haben, die Regierung vorerst einmal arbeiten zu lassen und sie an ihren Taten zu messen, ehe sie den Stab über sie brechen.
Österreich und sein Parlament haben, anders als andere europäische Demokratien etwa in Skandinavien, keine Erfahrung mit einer solchen Regierungsform. Nur Bruno Kreisky wagte 1970/71 das Experiment einer Minderheitsregierung. Seine SPÖ hatte damals noch keine absolute Mandatsmehrheit im Nationalrat, der rote Kanzler versicherte sich aber des parlamentarischen Wohlverhaltens der FPÖ, indem er ihr eine maßgeschneiderte Wahlrechtsreform offerierte.
Seither gab es nur ein Mal eine Regierung, die keine Nationalratsmehrheit hatte: und zwar die Regierung Kurz im Mai 2019 in den Tagen nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos, als die FPÖ die Regierung verließ und in die Reihen der Opposition wechselte. Wenige Tage später wurde die Regierung vom Nationalrat abgewählt – inklusive der neuen parteifreien Minister, die nach dem Ausscheiden der blauen Regierungsmitglieder ernannt worden waren und nicht einmal die Chance erhielten, Gründe für ihre Abwahl zu liefern.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen löste die heraufdräuende Staatskrise damals auf kreative Weise, indem er die parteiunabhängige Brigitte Bierlein als Kanzlerin aus dem Hut zauberte. Er tat dies nach intensiven Beratungen mit den Nationalratsfraktionen, die bei den Ministerinnen- und Ministerernennungen mitreden durften. Auf diese Weise sicherte Van der Bellen der Regierung Bierlein das Vertrauen des Nationalrats, der die Regierung ungehindert arbeiten ließ.
Kreativität wird auch bei der nächsten Regierungsbildung notwendig sein, wobei eine Wiederholung des Modells Bierlein nicht ratsam ist. Denn eine Regierung, die sich nicht auf gewählte politische Parteien stützen kann, hat nur wenig Durchschlagskraft. Sie eignet sich nur für Übergangsphasen, und es war eine glückliche Fügung des Schicksals, dass die Regierung Bierlein keine Krisen wie etwa die Coronapandemie meistern musste.
Österreich wählt im Herbst nicht den Kanzler, sondern den Nationalrat. Dieser wird Vernunft, Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein zeigen müssen. Und Kreativität.
Alternative, neue Formen der Regierung