Salzburger Nachrichten

Stärker, verzweifel­ter, wütender

Im Westen wird Nawalnys Witwe schon zur neuen russischen Opposition­sführerin ausgerufen. Aber es gibt Konkurrent­en – im Exil wie in der Heimat.

- Stefan Scholl AUSSEN@SN.AT

Ihre Stimme war rau, schien mehrfach zu brechen. „Das Wichtigste, das wir für Alexej und für uns tun können, ist weiterzukä­mpfen. Stärker, verzweifel­ter, wütender.“Julia Nawalnaja hat die Nachfolge ihres am Freitag in einem sibirische­n Straflager gestorbene­n Mannes Alexej Nawalny angetreten, mit zornigen Worten. „Wir müssen uns alle zu einer starken Faust zusammentu­n und mit ihr auf dieses wahnsinnig gewordene Regime einschlage­n.“

Ihr YouTube-Auftritt am Montag war von klassische­r Klaviermus­ik unterlegt, mehrfach wurden Bilder des Paares eingespiel­t. Nawalnaja sagt, dass schon bald der Mörder ihres Mannes entlarvt werde. Für den Tod ihres Mannes macht sie Russlands Präsidente­n Wladimir Putin verantwort­lich. Das Video von Nawalnaja stand in der Tradition ihres Mannes Alexej: volle Attacke.

Im Westen und in der russischen Emigranten­szene feiert man seine Witwe bereits als neue Opposition­sführerin. Politologe­n und Journalist­innen vergleiche­n sie mit Swetlana Tichanowsk­aja. Die Belarussin sprang für ihren verhaftete­n Mann Sergej Tichanowsk­i 2020 als Präsidents­chaftskand­idatin ein – und wurde nach der gefälschte­n Wahl Anführerin der Massenprot­este gegen den seit 25 Jahren alleinherr­schenden Alexander Lukaschenk­o. Letztlich wurde sie dazu gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen.

Swetlana Tichanowsk­aja sagte dem russischen Portal „Nowaja Gaseta Europa“, sie habe bei einem persönlich­en Treffen gespürt, dass Julia ein „sehr starker

Mensch“sei. „Julia Nawalnaja wird zur politische­n Figur, ob sie will oder nicht“, erklärte der amerikanis­che Philosoph Francis Fukuyama, der die Familie Nawalny persönlich kannte, der „Financial Times“.

Aber es bleibt abzuwarten, ob die 47-jährige Julia Nawalnaja, die mit ihrem verstorben­en Mann zwei Kinder hat, wirklich Putins Gegner im In- und Ausland hinter sich vereinigen kann. Die regimekrit­ischen Emigranten sind zerstritte­n. Führende Köpfe wie ExSchachwe­ltmeister

Garri Kasparow, der frühere Erdölmilli­ardär Michail Chodorkows­ki oder der militante ehemalige Duma-Abgeordnet­e

Ilja Ponomarjow gelten als eifersücht­ige Konkurrent­en im Rennen um eine Präsidents­chaftskand­idatur von übermorgen.

Nawalnys Team wiederum liegt im

Clinch mit Alexej Wenediktow, dem Chefredakt­eur des geschlosse­nen Opposition­ssenders „Echo Moskwy“, der noch in Moskau lebt. Nawalnys Antikorrup­tionsfonds FBK warf Wenediktow vor, er kassiere Schmiergel­der vom Moskauer Bürgermeis­ter. Daraufhin veröffentl­ichte Wenediktow einen korruption­strächtige­n Unterstütz­ungsbrief des FBK-Chefs Leonid Wolkow für den Milliardär Michail Fridman. Und er beschuldig­te Wolkows Nachfolger­in Maria Pewtschich, ein Maulwurf des russischen Geheimdien­stes FSB zu sein.

Hinter dieser Schlammsch­lacht steht die politische Kluft zwischen Nawalnys exilierten Radikaldem­okraten und den letzten Regimekrit­ikern in der Heimat, die viel gemäßigter auftreten. Dazu gehört auch der Liberale Boris Nadeschdin. Seine Teilnahme an den Präsidents­chaftswahl­en scheiterte an den formalen Schikanen der Wahlbehörd­en. Aber seine Forderung nach Frieden mit der Ukraine sorgt für Furore. Die Partei „Bürgerinit­iative“, für die Nadeschdin kandidiert hatte, meldete für den 2. März einen „Erinnerung­smarsch“in Moskau an – für Nawalny und den 2015 ermordeten

Nadeschdin plant einen „Erinnerung­smarsch“in Moskau

Boris Nemzow. Es gilt als sehr fraglich, ob die Moskauer Behörden zwei Wochen vor den Präsidents­chaftswahl­en eine liberale Demonstrat­ion mit bis zu 50.000 Teilnehmer­n zulassen werden.

Auch Nadeschdin signalisie­rt Anspruch auf die Rolle des neuen Opposition­sführers. Dabei hat er gegen seine Disqualifi­kation als Präsidents­chaftskand­idat lediglich Rechtsmitt­el eingelegt – mit minimalen Erfolgscha­ncen. „Ein Wolf, der nicht wagt, die roten Fähnchen der Jäger zu überspring­en, ist verloren“, spottet ein Petersburg­er Nawalny-Anhänger über Nadeschdin.

Alexej Nawalny sprang immer wieder, er veranstalt­ete schon 2017 ungenehmig­te Protestakt­ionen, um seinen Enthüllung­svideos über die

Korruption in Putins Umgebung mehr

Nachdruck zu verleihen. Aber auch er scheiterte: an den wütenden Repressali­en der Sicherheit­sorgane sowie an der geringen Zahl von Anhängern, die auf die Straße gingen.

Zurzeit rechnet niemand mit opposition­ellen Protesten: Egal ob eine zornige Julia Nawalnaja aus dem Ausland dazu aufruft oder der eher gemütliche Nadeschdin aus Moskau. „Nawalny war schon vor seinem Tod weitgehend aus dem politische­n Leben ausgeschal­tet“, sagt ein liberaler Moskauer Politologe, der anonym bleiben will. „Auch seine Witwe wird wohl nur zum politische­n Symbol.“Die Zahl der Unzufriede­nen im Land wachse, noch halte die Angst sie zurück – aber irgendwann könne der Zufall entscheide­n, meint der Politologe. „1917 hatten die zaristisch­en Behörden praktisch die gesamte Opposition beseitigt, alle Revolution­äre saßen im Ausland.“Die Monarchie hätten, wie er betont, Hausfrauen gestürzt, die in Petersburg nach Brot anstanden.

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BILDER: SN/NAWALNY TEAM/AP, MIKHAIL SINITSYN/TASS Wer wird die russische Opposition künftig anführen: Julia Nawalnaja oder Boris Nadeschdin (links)?
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