Stärker, verzweifelter, wütender
Im Westen wird Nawalnys Witwe schon zur neuen russischen Oppositionsführerin ausgerufen. Aber es gibt Konkurrenten – im Exil wie in der Heimat.
Ihre Stimme war rau, schien mehrfach zu brechen. „Das Wichtigste, das wir für Alexej und für uns tun können, ist weiterzukämpfen. Stärker, verzweifelter, wütender.“Julia Nawalnaja hat die Nachfolge ihres am Freitag in einem sibirischen Straflager gestorbenen Mannes Alexej Nawalny angetreten, mit zornigen Worten. „Wir müssen uns alle zu einer starken Faust zusammentun und mit ihr auf dieses wahnsinnig gewordene Regime einschlagen.“
Ihr YouTube-Auftritt am Montag war von klassischer Klaviermusik unterlegt, mehrfach wurden Bilder des Paares eingespielt. Nawalnaja sagt, dass schon bald der Mörder ihres Mannes entlarvt werde. Für den Tod ihres Mannes macht sie Russlands Präsidenten Wladimir Putin verantwortlich. Das Video von Nawalnaja stand in der Tradition ihres Mannes Alexej: volle Attacke.
Im Westen und in der russischen Emigrantenszene feiert man seine Witwe bereits als neue Oppositionsführerin. Politologen und Journalistinnen vergleichen sie mit Swetlana Tichanowskaja. Die Belarussin sprang für ihren verhafteten Mann Sergej Tichanowski 2020 als Präsidentschaftskandidatin ein – und wurde nach der gefälschten Wahl Anführerin der Massenproteste gegen den seit 25 Jahren alleinherrschenden Alexander Lukaschenko. Letztlich wurde sie dazu gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen.
Swetlana Tichanowskaja sagte dem russischen Portal „Nowaja Gaseta Europa“, sie habe bei einem persönlichen Treffen gespürt, dass Julia ein „sehr starker
Mensch“sei. „Julia Nawalnaja wird zur politischen Figur, ob sie will oder nicht“, erklärte der amerikanische Philosoph Francis Fukuyama, der die Familie Nawalny persönlich kannte, der „Financial Times“.
Aber es bleibt abzuwarten, ob die 47-jährige Julia Nawalnaja, die mit ihrem verstorbenen Mann zwei Kinder hat, wirklich Putins Gegner im In- und Ausland hinter sich vereinigen kann. Die regimekritischen Emigranten sind zerstritten. Führende Köpfe wie ExSchachweltmeister
Garri Kasparow, der frühere Erdölmilliardär Michail Chodorkowski oder der militante ehemalige Duma-Abgeordnete
Ilja Ponomarjow gelten als eifersüchtige Konkurrenten im Rennen um eine Präsidentschaftskandidatur von übermorgen.
Nawalnys Team wiederum liegt im
Clinch mit Alexej Wenediktow, dem Chefredakteur des geschlossenen Oppositionssenders „Echo Moskwy“, der noch in Moskau lebt. Nawalnys Antikorruptionsfonds FBK warf Wenediktow vor, er kassiere Schmiergelder vom Moskauer Bürgermeister. Daraufhin veröffentlichte Wenediktow einen korruptionsträchtigen Unterstützungsbrief des FBK-Chefs Leonid Wolkow für den Milliardär Michail Fridman. Und er beschuldigte Wolkows Nachfolgerin Maria Pewtschich, ein Maulwurf des russischen Geheimdienstes FSB zu sein.
Hinter dieser Schlammschlacht steht die politische Kluft zwischen Nawalnys exilierten Radikaldemokraten und den letzten Regimekritikern in der Heimat, die viel gemäßigter auftreten. Dazu gehört auch der Liberale Boris Nadeschdin. Seine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen scheiterte an den formalen Schikanen der Wahlbehörden. Aber seine Forderung nach Frieden mit der Ukraine sorgt für Furore. Die Partei „Bürgerinitiative“, für die Nadeschdin kandidiert hatte, meldete für den 2. März einen „Erinnerungsmarsch“in Moskau an – für Nawalny und den 2015 ermordeten
Nadeschdin plant einen „Erinnerungsmarsch“in Moskau
Boris Nemzow. Es gilt als sehr fraglich, ob die Moskauer Behörden zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen eine liberale Demonstration mit bis zu 50.000 Teilnehmern zulassen werden.
Auch Nadeschdin signalisiert Anspruch auf die Rolle des neuen Oppositionsführers. Dabei hat er gegen seine Disqualifikation als Präsidentschaftskandidat lediglich Rechtsmittel eingelegt – mit minimalen Erfolgschancen. „Ein Wolf, der nicht wagt, die roten Fähnchen der Jäger zu überspringen, ist verloren“, spottet ein Petersburger Nawalny-Anhänger über Nadeschdin.
Alexej Nawalny sprang immer wieder, er veranstaltete schon 2017 ungenehmigte Protestaktionen, um seinen Enthüllungsvideos über die
Korruption in Putins Umgebung mehr
Nachdruck zu verleihen. Aber auch er scheiterte: an den wütenden Repressalien der Sicherheitsorgane sowie an der geringen Zahl von Anhängern, die auf die Straße gingen.
Zurzeit rechnet niemand mit oppositionellen Protesten: Egal ob eine zornige Julia Nawalnaja aus dem Ausland dazu aufruft oder der eher gemütliche Nadeschdin aus Moskau. „Nawalny war schon vor seinem Tod weitgehend aus dem politischen Leben ausgeschaltet“, sagt ein liberaler Moskauer Politologe, der anonym bleiben will. „Auch seine Witwe wird wohl nur zum politischen Symbol.“Die Zahl der Unzufriedenen im Land wachse, noch halte die Angst sie zurück – aber irgendwann könne der Zufall entscheiden, meint der Politologe. „1917 hatten die zaristischen Behörden praktisch die gesamte Opposition beseitigt, alle Revolutionäre saßen im Ausland.“Die Monarchie hätten, wie er betont, Hausfrauen gestürzt, die in Petersburg nach Brot anstanden.