Hinter Indiens Reizen lauern auch Risiken
In Indien geben sich westliche Politiker die Klinke in die Hand. Die Volkswirtschaft des bevölkerungsreichsten Lands der Erde wächst rasant und ist in IT und Biotech gut dabei.
Einen Tag Atmen in Delhi hat die gleichen Folgen wie einen Tag Kettenrauchen anderswo. Ein Vorurteil? „Leider nein“, meint Hans-Jörg Hörtnagl, Österreichs Wirtschaftsdelegierter in Delhi. Die Menge schädlichen Feinstaubs, die sich an schlechten Tagen hier in der Lunge ablagert, entspricht der von 50 Zigaretten, rechnen Mediziner vor. Und die schlechten Tage sind gerade im Winter häufig, sagt Hörtnagl. Luftverschmutzung ist nur eines der drängenden Probleme Indiens. Mehr als die Hälfte des Energiebedarfs des Landes wird nach wie vor über das Verbrennen von Kohle gedeckt. Dazu kommen ein weiteres Viertel aus Erdöl und Erdgas – zuletzt immer häufiger aus Russland – und das Verbrennen von Dung und Holz. Sonnenstrom oder Windkraft rangieren ganz hinten. Beim CO2-Ausstoß zählt Indien weltweit zu den Top 3. Zugleich sind die Folgen des Klimawandels immer stärker zu spüren, das Thermometer steigt immer öfter auf knapp 50 Grad. Und doch geben sich in Indien derzeit Europas Politiker die Klinke in die Hand, vor zwei Wochen etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
Österreichs Wirtschaftsminister Martin Kocher startete seinen Besuch diese Woche in Bangalore. Bengaluru, wie es in Indien heißt, gilt als Gartenstadt Indiens, mit Parks und angenehmerem Klima – und als Silicon Valley des Landes. Die Kehrseite der Medaille. Bei Zukunftstechnologien wie IT und Biotechnologie gilt Indien unter Experten längst als ernst zu nehmender Player. Und das Land hat Potenzial.
Mit April 2023 hat Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst. Trotz Armut – 230 Millionen Inder müssen laut Weltbank mit nur zwei Dollar am Tag auskommen – und einer nach wie vor massiven Kluft zwischen Arm und Reich, gibt es Fortschritte.
„Die Mittelschicht wächst ständig“, sagt Hörtnagl. Zählten vor 20 Jahren erst 14 Prozent zu dieser Gruppe, die in Indien zwischen 5000 und 30.000 Dollar im Jahr verdient, seien es jetzt bereits 31 Prozent. Und die Zahl soll bis 2030 auf 50 Prozent steigen. Das Wirtschaftswachstum lag im mit März zu Ende gehenden Wirtschaftsjahr bei 7,3 Prozent, der höchste Wert der G20-Staaten. Für heuer sind 6,4 Prozent Wachstum prognostiziert.
„Ein Momentum, in dem sich für Österreich interessante Chancen bieten“, sagt Kocher, gerade in geopolitisch schwierigen Zeiten, in denen man die Abhängigkeit von China reduzieren wolle und durch den
Angriff Russlands auf die Ukraine auch Exportmärkte verloren habe.
150 heimische Unternehmen sind in Indien bereits aktiv, von Andritz über AT&S bis Wienerberger. Das Land setze dabei auf Zuckerbrot und Peitsche, betont Hörtnagl. Wer lokal produziert, hat deutlich bessere Chancen, Produkte auf dem Markt absetzen zu können.
Ein österreichisches Unternehmen, das überlegt, in Indien Fuß zu fassen, ist der Robotikkonzern B&R aus Eggelsberg. In der kleinen Innviertler Gemeinde stoße man schon bei der Suche nach Mitarbeitern an Grenzen, sagt B&R-Manager Marc Ostertag. 3000 Mitarbeiter sind dort beschäftigt. Mit einem „hervorragenden Fachkräftepotenzial“und dem schnell wachsenden Markt zähle Indien zu den Favoriten
für einen zweiten Standort neben Österreich. Risiken sieht Ostertag in Indien „eigentlich keine“. Die Schweizer Konzernmutter ABB ist schon länger in Indien tätig.
Auch der österreichische Weltmarktführer für Feuerfestprodukte RHI ist seit vielen Jahren mit aktuell 10.000 Mitarbeitern auf dem riesigen indischen Markt präsent. „Was wir hier brauchen, ist nachhaltige Energie“, schildert Susanne Moser die Probleme. Die Produktion sei extrem energieintensiv, 99 Prozent davon kommen in den neun Werken in Indien aus Kohle. „Für den Gesamtkonzern ein äußerst unbefriedigender Zustand.“Die großen Mengen, die RHI in jeder der Produktionsstätten im Land brauche, bekomme man aus Wind- oder Sonnenenergie hier nicht, schon gar nicht bei dem schlechten Leitungsnetz. „Wir sprechen hier von der Größenordnung eines Donaukraftwerks für jedes Werk“, sagt Moser. RHI könne aber nicht auf den indischen Markt verzichten. Feuerfestprodukte würden überall dort gebraucht, wo gebaut wird, sagt sie. „Indien ist derzeit unser einziger wirklich starker Wachstumsmarkt.“
Heimische Unternehmen könnten aber auch in Österreich vom indischen Markt profitieren, sagt der Wirtschaftsdelegierte Hörtnagl. „Wer sich hier IT-Techniker oder Ingenieure aufbaut, kann diese Fachkräfte auch weltweit einsetzen.“Ein zweites China werde Indien dabei nicht werden, davon ist Hörtnagl überzeugt. „China war die verlängerte Werkbank, Indien wird das verlängerte Bürohaus.“
Und welche Auswirkungen hat eine immer autokratischer geführte Regierung unter Premier Narendra Modi, der die guten Beziehungen zu Russland keineswegs aufs Spiel setzen will? „In einer geopolitischen Situation mit derart vielen Spannungen halte ich es für wichtig, europäische Wertepositionen zu vertreten“, betont Kocher. Das werde man mit Nachdruck machen. „Aber dass diese jeder weltweit zur Gänze teilt, kann man kaum erwarten.“