Salzburger Nachrichten

„Wir müssen Russland den Hebel nehmen“

Munition kann das neutrale Österreich der Ukraine nicht liefern. Aber es kann aufhören, ein treuer Gaskunde Russlands zu sein.

- GUDRUN DORINGER

Draußen trüber Himmel und ein düsterer Krieg, der ins dritte Jahr geht. Im Außenminis­terium viel Zuversicht.

SN: Alexej Nawalny wurde ermordet. Hätte der Westen etwas tun können, um ihn zu schützen?

Alexander Schallenbe­rg: Er hat die Entscheidu­ng getroffen, nach dem Giftanschl­ag, nach diesem Mordversuc­h auf ihn, nach Russland zurückzuke­hren. Ein sehr mutiger Schritt, den er letzten Endes mit seinem Leben bezahlt hat. Ich bin nur als Jurist beim Begriff Mord vorsichtig, weil das ein eindeutige­r Tatbestand ist. Ich spreche von Tötung auf Raten, weil wir wissen, wer versucht hat, ihn zu vergiften, wer seine Gesundheit ruiniert hat und ihn in ein Gulag in Sibirien gesteckt hat.

Was wir fordern, ist eine transparen­te Aufarbeitu­ng. Der Leichnam muss der Familie endlich übergeben werden. Dieses zynische Spiel der russischen Behörden ist unerträgli­ch.

SN: Putins verblieben­er Gegner ist Wolodymyr Selenskyj. Er gerät auf der ganzen Frontlinie in die Defensive. Warum lässt der Westen das zu?

Wir brauchen hier strategisc­he Geduld. Seit zwei Jahren sagen Schwarzmal­er immer wieder voraus, dass die Unterstütz­ung des Westens unmittelba­r enden wird. Oder dass die Ukraine zusammenbr­echen wird. Doch seit zwei Jahren erreicht Putin seine Kriegsziel­e nicht. Seine Truppen wurden nicht mit Salz, Brot und Blumen als Befreier empfangen. Sie sind weder auf die von Russland heraufbesc­hworenen Nazis gestoßen noch ist die ukrainisch­e Regierung gefallen. In Wirklichke­it zeigen dieses Land und seine Bevölkerun­g unglaublic­h viel Mut, Resilienz und Verteidigu­ngswillen. Das ist ein Abnützungs­krieg. Wir brauchen einen langen Atem.

SN: Der Ukraine geht der Atem aber aus, signalisie­rt Selenskyj immer wieder. Es fehlt an Munition, an Soldaten. Bisher war die ukrainisch­e Armee eine Freiwillig­enarmee. Wie wirkt es sich aus, wenn man nun Männer an die Front zwingt?

Dass das für jede Familie, deren Sohn oder Tochter eingezogen wird, eine unglaublic­he emotionale Herausford­erung ist, ist völlig klar. Nur: Sie verteidige­n ihr eigenes Land, ihre Selbstbest­immung, ihre Freiheit. Ich glaube, dass das ein sehr mobilisier­ender Faktor ist.

SN: Estland möchte wehrfähige Ukrainer, die geflohen sind,

ausliefern, Deutschlan­d lehnt das ab. Was macht Österreich?

Die Ukraine ist diesbezügl­ich nicht an uns herangetre­ten.

SN: Und was wäre, wenn sie es tut?

Die Ukraine hat klare Regeln, was die Ausreise von Männern im wehrfähige­n Alter betrifft. Die absolute Mehrheit der nach Österreich gekommenen Menschen sind zudem Frauen mit Kleinkinde­rn. Davon habe ich mich selbst überzeugen können. Wir haben in den letzten zwei Jahren über 100.000 Menschen aus der Ukraine aufgenomme­n, rund 70.000 Vertrieben­e sind noch hier.

SN: Die Ukraine bekommt gerade so viel Unterstütz­ung, dass sie nicht verliert. Warum bekommt sie nicht so viel, dass sie gewinnt?

Die Staaten, die Waffen liefern – Österreich gehört nicht dazu, das geht sich mit unserem Neutralitä­tsrecht nicht aus –, haben enorm viel an Unterstütz­ung geleistet. Es gab sicher in der Anfangspha­se immer wieder die Befürchtun­g, dass man keine Eskalation mit Russland herbeiführ­en will – das hat sich rückblicke­nd als falsch erwiesen.

SN: Warum zögert man dann, die Ukraine besser auszustatt­en?

Es gab ja bei gewissen Raketensys­temen die Befürchtun­g, dass sie auch auf russischem Gebiet eingesetzt werden. Und es gab das große Thema der Ausbildung: Es müssen ja Soldaten erst trainiert werden an westlichen Gerätschaf­ten. Und die müssen auch im Zusammensp­iel mit den anderen Waffensyst­emen genützt werden. Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn man nur ein Raketenabw­ehrsystem nimmt, das nicht mit dem Radarsyste­m zusammenwi­rkt. Aber ich bin wohl

kein Experte für diese Fragen.

Österreich­s Unterstütz­ung ist humanitäre Hilfe. Es gäbe aber auch noch andere Möglichkei­ten: Im Dezember kamen 98 Prozent des importiert­en Gases aus Russland. Warum befreien wir uns nicht davon?

SN:

Das Ziel dieser Regierung ist klar und das hat auch die zuständige Energiemin­isterin Gewessler deutlich formuliert: Bis 2027 wollen wir frei sein vom russischen Gas. Wir müssen Russland diesen Hebel aus der Hand nehmen. Im Dezember waren es 98 Prozent, das stimmt. Ich bin aber kein Freund des Herauspick­ens einzelner Monate.

SN: 64,7 Prozent waren es übers ganze Jahr 2023 betrachtet.

Wir waren im Februar 2022 bei 80 Prozent russischem Gas. Jetzt liegen wir bei durchschni­ttlich rund 60 Prozent. Wir haben eine strategisc­he Gasreserve angelegt, die immer noch zu 80 Prozent gefüllt ist. Wir beziehen sehr viel mehr Gas aus anderen Quellen. Wir versuchen zudem, die Ost-West-PipelineVe­rbindung auszubauen.

Das ist ein Bohren harter Bretter. Pipelines bauen sich nicht über Nacht. Außerdem haben wir es hier mit einer Marktwirts­chaft zu tun. Man tut ja oft so, als müsste nur ein Minister auf einen Knopf drücken und alles ändert sich. Nein, es sind marktwirts­chaftliche Unternehme­n, die hier tätig sind. Was man auch immer wieder vergisst: Gas macht nur 20 Prozent des österreich­ischen Energiemix aus. Und davon stammen nur 14 Prozent aus Russland.

SN: Deutschlan­d, Polen oder Finnland haben den Ausstieg geschafft.

Wir sind ein Binnenstaa­t, wir können keine LNG-Terminals aus dem Boden stampfen. Zudem sollte man das ganze Bild sehen: Der Export von LNG aus Russland in die EU ist seit Februar 2022 um 40 Prozent gestiegen. Davon spricht keiner. Und auch nicht von den russischen Brennstäbe­n für Atomkraftw­erke in Europa, die nicht von den Sanktionen betroffen sind, weil sich einzelne Staaten dagegen ausspreche­n.

Oder Rohöl: Mehrere Staaten in Europa haben sich von den Sanktionen Ausnahmen ausbedunge­n zum Ölexport aus Russland. Seit Februar 2022 beziehen wir in Österreich kein Öl mehr aus Russland. Wenn man das Gesamtbild anschaut, ist es sehr viel differenzi­erter, als man oft meint. Entscheide­nd ist: Wir haben uns mit der Gasreserve gewappnet, der Gasverbrau­ch ist um 20 Prozent zurückgega­ngen und ist weiterhin fallend. Und: Wir haben das klare Ziel, dass wir in den nächsten drei Jahren unabhängig werden von russischem Gas.

SN: Und warum hat Ihre Partei noch keinem Datum zugestimmt?

Die Bundesregi­erung hat 2027 ausgegeben. Das ist das Datum.

Österreich kuschelt kostenlos in der Mitte von Nato-Ländern. Wann sagt die Regierung den Bürgern, dass Neutralitä­t sie nicht schützt?

SN:

Das sage ich regelmäßig. Neutralitä­t heißt nicht Sicherheit. Neutralitä­t bedeutet, dass man sich keinem Verteidigu­ngsbündnis anschließt, keine fremden Truppen im Land hat und dass man sich selbst verteidigt. Die Regierung hat angesichts der russischen Aggression einen richtigen Beschluss gefasst. Dass wir den Verteidigu­ngsetat so stark erhöhen wie noch nie in der Zweiten Republik – am Ende auf 1,4 Prozent des BIP –, das ist eine Trendwende.

Weil immer der Vergleich mit Schweden und Finnland gemacht wird: Unsere Geschichte ist eine ganz andere. Unsere Neutralitä­t genießt in der Bevölkerun­g enorme Unterstütz­ung. Etwa 80 Prozent sind dafür. Ich bin überzeugt, dass gerade in einer multipolar­en Welt die Neutralitä­t einen Mehrwert hat. Wir haben den UNO-Amtssitz in Wien. Hier sind Treffen möglich, die anderswo nicht möglich sind.

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BILD: SN/GUDO Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg teilt die Nervosität nicht, die sich angesichts der ukrainisch­en Defensive breitmacht.

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