„Juden sind hier unerwünscht“
Es ist schick geworden, mit einem Palästinensertuch um die Schultern gegen Israel zu polemisieren. Mit Antisemitismus hat das natürlich nichts zu tun.
Israel ist also der Hort des Bösen. Wieder einmal. Bei den Internationalen Filmfestspielen von Berlin behängten sich Filmemacher auf offener Bühne mit Palästinensertüchern (gilt derlei nicht üblicherweise als verdammenswerte kulturelle Aneignung?) und bezichtigten Israel des Genozids. Bei der diesjährigen Biennale in Venedig soll Israel wegen seiner „völkermörderischen Politik“gleich gar nicht teilnehmen dürfen, fordern Tausende Unterschriftleistende im Vorfeld dieser Veranstaltung. Auch was den bevorstehenden Songcontest betrifft, gibt es eine starke Strömung, die die Teilnahme Israels verhindern möchte. „Juden sind hier unerwünscht“, könnte man sagen.
Man reibt sich die Augen. Denn so sehr man die Kriegsführung Israels gegen die Hamas auch kritisieren mag, so untersuchenswert einzelne Militäraktionen sind und so sehr die Bilder aus Gaza dem Beobachter das Herz zerreißen: Der weitverbreitete Eindruck, dass es außer dem Leid der von der Hamas in Geiselhaft gehaltenen palästinensischen Zivilbevölkerung kein humanitäres Problem auf der Welt gebe, ist doch einigermaßen verzerrt. „Mindestens 25 Millionen Sudanesen leiden unter Hunger oder Mangelernährung, Kinder verhungern“, kann man etwa auf der Plattform Middle East Eye unter dem Titel „Sudan’s forgotten masses are dying every day
Wo bleibt die Verantwortung der arabischen Welt?
of starvation“lesen. Der Bürgerkrieg in dem afrikanischen Land hat bisher mehr als zehn Millionen Menschen in die Flucht getrieben, Tausende haben ihr Leben verloren. Was nicht nur den wackeren Anti-Israel-Kämpfern bei diversen europäischen Kulturevents, sondern auch dem restlichen Globus relativ egal zu sein scheint.
Auch medial findet die humanitäre Katastrophe im keineswegs so fernen Afrika nur wenig Niederschlag, vor allem im Vergleich zu Israel, wo die ganze Welt jede militärische Aktion gegen die Hamas mit Argusaugen beobachtet. Dass diese als politische Partei getarnte Terrororganisation vor wenigen Monaten einen Massenpogrom gegen israelische Zivilisten veranstaltete, dabei Hunderte Menschen grausam ermordete, dass Frauen vergewaltigt und Kinder zerstückelt wurden, dass sich immer noch israelische
Bürger in der Gewalt der Hamas befinden, dass diese seit
Jahren regelmäßig Raketen auf Israel abfeuert, wird von vielen offenkundig als vernachlässigbare Kollateralsünde betrachtet.
Daher gehören antiisraelische Kundgebungen in vielen europäischen Städten bereits zum Straßenbild, während etwa der von Irans Regierenden gegen das eigene Volk geführte Krieg, der mörderische Bürgerkrieg im Jemen, der Umgang des chinesischen Regimes mit den Uiguren, die drangsalierten Frauen in Afghanistan, die erst kürzlich mehr als hunderttausend aus Aserbaidschan vertriebenen Armenier keinen Demonstranten hinter dem Ofen hervorlocken. Um nur einige der Weltgegenden zu nennen, wo Menschen unterdrückt, gefoltert und getötet werden. Zum Straßenprotest eignet sich derlei offenkundig nur, wenn man Israel für die Missetaten verantwortlich machen kann.
Es fällt schwer, diese verzerrte Sichtweise nicht als Ausdruck klassischen Antisemitismus zu bezeichnen, gepaart mit einem kräftigen Schuss Geschichtsvergessenheit, derer sich die Weltgemeinschaft schuldig macht. Allein die Tatsache, dass Millionen von Palästinensern rund um Israel seit Jahrzehnten in sogenannten Flüchtlingslagern leben, sollte zu denken geben. Wie ist das möglich? In den Jahren
nach dem Zweiten Weltkrieg sind nicht nur Palästinenser aus Israel vertrieben worden. Es wurden auch Juden aus arabischen Staaten nach Israel vertrieben, es wurden Millionen Deutsche aus Osteuropa nach Deutschland und Österreich vertrieben. In all diesen Fällen wurden die Geflüchteten in kurzer Zeit in ihrer neuen Heimat integriert, die Menschen konnten ihren Flüchtlingsstatus überwinden, allfällige Rachegefühle gegen die Vertreiber sind im Lauf der Zeit und der Generationen verschwunden. Nur die in ihre arabischen Nachbarländer geflüchteten Palästinenser (beziehungsweise mittlerweile ihre Enkel und Urenkel) beharren auf Revanche und hängen seit mehr als sieben Jahrzehnten in ihrem Flüchtlingsstatus fest. Dieser wird sogar vererbt, sodass aus den rund 700.000 damals Geflüchteten mittlerweile 5,7 Millionen wurden. Ist das tatsächlich alles die Schuld Israels – und nicht etwa der arabischen Welt, die die Flüchtlinge nicht integriert, sondern instrumentalisiert, um mit ihnen und ihrem Leid die Legitimität des Staates Israel zu untergraben? Und was den aktuellen Krieg betrifft: Ist es wirklich allein die Schuld Israels, dass die Menschen in Gaza festsitzen und nicht ins benachbarte Ägypten ausreisen dürfen? Oder zieht es die arabische Welt etwa vor, Gaza mitsamt seinen bedauernswerten Bewohnern als Pulverfass zu bewahren, das jederzeit gegen Israel gezündet werden kann?
Leichter, als über diesen Fragen zu brüten, ist es zweifellos, mit einem Palästinensertuch um die Schultern gegen Israel zu polemisieren.