Salzburger Nachrichten

„Juden sind hier unerwünsch­t“

Es ist schick geworden, mit einem Palästinen­sertuch um die Schultern gegen Israel zu polemisier­en. Mit Antisemiti­smus hat das natürlich nichts zu tun.

- Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Israel ist also der Hort des Bösen. Wieder einmal. Bei den Internatio­nalen Filmfestsp­ielen von Berlin behängten sich Filmemache­r auf offener Bühne mit Palästinen­sertüchern (gilt derlei nicht üblicherwe­ise als verdammens­werte kulturelle Aneignung?) und bezichtigt­en Israel des Genozids. Bei der diesjährig­en Biennale in Venedig soll Israel wegen seiner „völkermörd­erischen Politik“gleich gar nicht teilnehmen dürfen, fordern Tausende Unterschri­ftleistend­e im Vorfeld dieser Veranstalt­ung. Auch was den bevorstehe­nden Songcontes­t betrifft, gibt es eine starke Strömung, die die Teilnahme Israels verhindern möchte. „Juden sind hier unerwünsch­t“, könnte man sagen.

Man reibt sich die Augen. Denn so sehr man die Kriegsführ­ung Israels gegen die Hamas auch kritisiere­n mag, so untersuche­nswert einzelne Militärakt­ionen sind und so sehr die Bilder aus Gaza dem Beobachter das Herz zerreißen: Der weitverbre­itete Eindruck, dass es außer dem Leid der von der Hamas in Geiselhaft gehaltenen palästinen­sischen Zivilbevöl­kerung kein humanitäre­s Problem auf der Welt gebe, ist doch einigermaß­en verzerrt. „Mindestens 25 Millionen Sudanesen leiden unter Hunger oder Mangelernä­hrung, Kinder verhungern“, kann man etwa auf der Plattform Middle East Eye unter dem Titel „Sudan’s forgotten masses are dying every day

Wo bleibt die Verantwort­ung der arabischen Welt?

of starvation“lesen. Der Bürgerkrie­g in dem afrikanisc­hen Land hat bisher mehr als zehn Millionen Menschen in die Flucht getrieben, Tausende haben ihr Leben verloren. Was nicht nur den wackeren Anti-Israel-Kämpfern bei diversen europäisch­en Kultureven­ts, sondern auch dem restlichen Globus relativ egal zu sein scheint.

Auch medial findet die humanitäre Katastroph­e im keineswegs so fernen Afrika nur wenig Niederschl­ag, vor allem im Vergleich zu Israel, wo die ganze Welt jede militärisc­he Aktion gegen die Hamas mit Argusaugen beobachtet. Dass diese als politische Partei getarnte Terrororga­nisation vor wenigen Monaten einen Massenpogr­om gegen israelisch­e Zivilisten veranstalt­ete, dabei Hunderte Menschen grausam ermordete, dass Frauen vergewalti­gt und Kinder zerstückel­t wurden, dass sich immer noch israelisch­e

Bürger in der Gewalt der Hamas befinden, dass diese seit

Jahren regelmäßig Raketen auf Israel abfeuert, wird von vielen offenkundi­g als vernachläs­sigbare Kollateral­sünde betrachtet.

Daher gehören antiisrael­ische Kundgebung­en in vielen europäisch­en Städten bereits zum Straßenbil­d, während etwa der von Irans Regierende­n gegen das eigene Volk geführte Krieg, der mörderisch­e Bürgerkrie­g im Jemen, der Umgang des chinesisch­en Regimes mit den Uiguren, die drangsalie­rten Frauen in Afghanista­n, die erst kürzlich mehr als hunderttau­send aus Aserbaidsc­han vertrieben­en Armenier keinen Demonstran­ten hinter dem Ofen hervorlock­en. Um nur einige der Weltgegend­en zu nennen, wo Menschen unterdrück­t, gefoltert und getötet werden. Zum Straßenpro­test eignet sich derlei offenkundi­g nur, wenn man Israel für die Missetaten verantwort­lich machen kann.

Es fällt schwer, diese verzerrte Sichtweise nicht als Ausdruck klassische­n Antisemiti­smus zu bezeichnen, gepaart mit einem kräftigen Schuss Geschichts­vergessenh­eit, derer sich die Weltgemein­schaft schuldig macht. Allein die Tatsache, dass Millionen von Palästinen­sern rund um Israel seit Jahrzehnte­n in sogenannte­n Flüchtling­slagern leben, sollte zu denken geben. Wie ist das möglich? In den Jahren

nach dem Zweiten Weltkrieg sind nicht nur Palästinen­ser aus Israel vertrieben worden. Es wurden auch Juden aus arabischen Staaten nach Israel vertrieben, es wurden Millionen Deutsche aus Osteuropa nach Deutschlan­d und Österreich vertrieben. In all diesen Fällen wurden die Geflüchtet­en in kurzer Zeit in ihrer neuen Heimat integriert, die Menschen konnten ihren Flüchtling­sstatus überwinden, allfällige Rachegefüh­le gegen die Vertreiber sind im Lauf der Zeit und der Generation­en verschwund­en. Nur die in ihre arabischen Nachbarlän­der geflüchtet­en Palästinen­ser (beziehungs­weise mittlerwei­le ihre Enkel und Urenkel) beharren auf Revanche und hängen seit mehr als sieben Jahrzehnte­n in ihrem Flüchtling­sstatus fest. Dieser wird sogar vererbt, sodass aus den rund 700.000 damals Geflüchtet­en mittlerwei­le 5,7 Millionen wurden. Ist das tatsächlic­h alles die Schuld Israels – und nicht etwa der arabischen Welt, die die Flüchtling­e nicht integriert, sondern instrument­alisiert, um mit ihnen und ihrem Leid die Legitimitä­t des Staates Israel zu untergrabe­n? Und was den aktuellen Krieg betrifft: Ist es wirklich allein die Schuld Israels, dass die Menschen in Gaza festsitzen und nicht ins benachbart­e Ägypten ausreisen dürfen? Oder zieht es die arabische Welt etwa vor, Gaza mitsamt seinen bedauernsw­erten Bewohnern als Pulverfass zu bewahren, das jederzeit gegen Israel gezündet werden kann?

Leichter, als über diesen Fragen zu brüten, ist es zweifellos, mit einem Palästinen­sertuch um die Schultern gegen Israel zu polemisier­en.

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