„Die Fledermaus“im U-Ausschuss: Glücklich ist, wer vergisst
Spannende Frage: Kann man Erinnerungsvermögen juristisch erzwingen?
Erinnern Sie sich noch, was Sie am 10. Februar 1998 zwischen neun und halb zehn Uhr getan haben? Oder am 27. September 2011 abends? Nein? Das ist schlecht. Ganz schlecht. Stellen Sie sich vor, Sie werden vor einen der derzeit üppig ins Kraut schießenden U-Ausschüsse geladen und bekommen genau diese Fragen gestellt. Was antworten Sie? Dass Sie sich nicht erinnern? Schlecht. Ganz schlecht.
Eine erfahrene Verfahrensrichterin bei solchen U-Ausschüssen erklärte neulich, dass – wörtlich! – „sich an etwas nicht erinnern zu können, unter Umständen zur Einleitung eines Strafverfahrens führen kann“. Na, was sagen Sie jetzt? Wer Jahre zurückliegende Ereignisse nicht prompt parat hat, kann künftig vor dem Richter und hinter Gittern landen!
Ob es straffreie Erinnerungsfreibeträge für Demenzkranke und Schwachköpfe geben wird, ist noch nicht bekannt. Und vor allem ist auch nicht bekannt, wie die neue Rechtsauffassung wider das Vergessen im Detail gehandhabt werden soll. Wie weit zurück muss das gesetzlich vorgeschriebene Erinnerungsvermögen reichen: 20 Jahre? 30? 50?
Klar ist, dass die Äußerung der Verfahrensrichterin eine Reaktion auf eine Aussage von Sebastian Kurz darstellte. Der Ex-Kanzler hatte nach seiner erstinstanzlichen Verurteilung wegen falscher Zeugenaussage vor einem U-Ausschuss gemeint, dieses Urteil werde Folgen für alle kommenden U-Ausschüsse haben: Um sich nicht der Gefahr einer Verurteilung wegen falscher oder unvollständiger Zeugenaussage auszusetzen, würden die Zeugen entweder gar nicht erscheinen oder sagen, dass sie sich nicht erinnern können.
Diese Vorhersage von Kurz ist zweifellos zutreffend. Jeder Zeuge, der vor dem U-Ausschuss geladen wird, läuft – wie man soeben gesehen hat – Gefahr, sich mit einem einzigen Satz jahrelange Ermittlungen, öffentliche Vorverurteilungen und endlose Gerichtsverfahren einzuhandeln. Und das wird auch so bleiben, solange parlamentarische U-Ausschüsse nicht dem gemeinsamen Bemühen der Parteien um Klärung eines Sachverhalts dienen, sondern den einzigen Zweck haben, einander vorzuführen und sich gegenseitig anzuschütten.
Die beiden nun startenden U-Ausschüsse gehören schon von der Anlage und vom Zeitpunkt mitten im Wahlkampf her ganz eindeutig zur zweiten Kategorie. Es wird daher von Erinnerungslücken nur so wimmeln. Als geheimes Motto wird über den Befragungen die unverwüstliche Liedzeile aus der österreichischen Staatsoperette „Die Fledermaus“schweben: „Glücklich ist, wer vergisst ...“
Daran wird mangels Vollziehbarkeit auch die entgegengesetzte Drohung „Straffällig ist, wer vergisst“nichts ändern können.