Trügerische Ruhe in Jerusalem
Die Angst vor der Rückkehr des Terrors in der geteilten Stadt ist groß. Israelis wie Palästinenser wissen, dass sie an einer Weggabelung angekommen sind.
Auf der Jaffa-Straße herrscht wie immer hektischer Trubel. Nichts deutet auf der Flaniermeile im Herzen Westjerusalems darauf hin, dass sich in Gaza, keine 80 Kilometer entfernt, eine blutige Tragödie abspielt. Die Stimmung wirkt ernster als im Frühjahr 2023, als noch Touristen aus aller Welt vor Einzug der Sommerhitze in die Heilige Stadt strömten. Nur vereinzelte evangelikale Besuchergruppen haben Reisewarnungen ignoriert, sie stören sich nicht an den automatischen Waffen, die selbst junge Paare geschultert haben.
Bei einer Veranstaltung in Erinnerung an die über 100 in den Gazastreifen verschleppten Hamas-Geiseln sind die Sicherheitsvorkehrungen überraschend lasch. Das junge Team am Eingang des „House of Zion“wirft nur einen kurzen Blick auf die Rucksäcke der geladenen internationalen und israelischen Journalisten. Palästinensische Medien sind nicht geladen. „Angesichts des Kulturkampfs halten alle Israelis zusammen, auch diejenigen, die vor dem 7. Oktober politisch verfeindet waren“, erklärt ein israelischer Journalist die für Besucher überraschend ruhige Stimmung in Israel.
Ein paar Gehminuten weiter östlich, am Damaskustor, starren Passanten an einer Straßenbahnhaltestelle auf ihre Mobiltelefone. Auch im annektierten Ostjerusalem wirkt der Alltag auf den ersten Blick unspektakulär.
Dabei treffen am Damaskustor in die Altstadt das mehrheitlich arabische Ostjerusalem und der jüdische Westteil aufeinander. Ein orthodoxes Ehepaar steht vor dem Gemüsestand eines Palästinensers, der Umgangston ist bedacht sachlich.
Wer in den palästinensischen Gebieten wen dominiert, wird schnell klar. Der palästinensische Verkäufer spricht hebräisch, die Währung ist der Schekel, auch hier wehen zahlreiche israelische Fahnen. Die Währung Israels wird auch in Gaza, dem Westjordanland und in dem nach internationalem Recht ebenfalls nicht zu Israel gehörenden Ostjerusalem verwendet.
„Unsere Steuern, unsere Identitätsdokumente, einfach alles wird von Israel kontrolliert“, sagt Mohamed Sbeidi schulterzuckend mit einem Lächeln. Der vierfache Vater betreibt am Eingang in die gähnend leere Altstadt einen Falafel-Imbiss.
„Viele von uns haben sich mit der Besatzung abgefunden, weil es wirtschaftlich ganz gut lief in den vergangenen Jahren und man seinen Kindern eine bessere Bildung bieten konnte, als dies in den Nachbarländern möglich wäre.“Doch seit dem vergangenen Oktober bleiben die Touristen aus, Sbeidis Gewinn ist um 80 Prozent gesunken.
Aus Angst vor weiteren Terroranschlägen lassen die israelischen Behörden zudem keine palästinensischen Arbeitnehmer mehr ins Land. Mindestens 200.000 Palästinenser wurden über Nacht arbeitslos. Im Westjordanland schloss die israelische Armee die Übergänge durch den 760 Kilometer langen Grenzzaun. Doch zwischen Ostund Westjerusalem gibt es keine Absperrungen. Die nach der Zweiten Intifada vor 20 Jahren gebaute Mauer steht inmitten palästinensischen Gebiets und trennt den Ostteil der Stadt vom Westjordanland.
„Manchmal vergesse ich, ob ich gerade in Ost- oder Westjerusalem bin“, sagt Avigail Zadik. Die israelische Sozialarbeiterin ist vor drei Jahren aus Tel Aviv in die Nähe des Damaskustors gezogen. Die Neugier zieht sie immer wieder in die von schwer bewaffneten Armeepatrouillen gesicherte Altstadt. Ihre Lebensmittel kauft sie bei den „arabischen Händlern“, wie sie sagt. Freunde trifft sie jedoch nur in den Cafés abseits der Jaffa-Straße.
„Die Angst vor der Rückkehr des Terrors und die verschärften Maßnahmen gegen normale Palästinenser haben neue, noch unsichtbare
Mauern in der Stadt geschaffen“, sagt sie. „Palästinenser und Israelis haben sich seit dem 7. Oktober noch weiter entfremdet. Beide Gesellschaften könnten sich unumkehrbar radikalisieren, wenn es nicht bald wieder ein normales Leben gibt.“
Im bald beginnenden muslimischen Fastenmonat Ramadan könnte die Lage eskalieren. Israels Sicherheitsminister Ben Gvir denkt laut darüber nach, Muslimen den Zugang zu der AlAksa-Moschee in der Altstadt zu verwehren, solange noch nicht alle Geiseln aus den Händen der Hamas frei sind. In den vergangenen Wochen haben ultranationalistische Jugendliche neben Palästinensern auch Christen zu ihrem Feindbild erklärt. Mehrere Priester wurden unter der Androhung von Gewalt aufgefordert, ihre Kreuze nicht mehr öffentlich sichtbar zu tragen.
„Nach zwei Jahrzehnten relativer Ruhe sind wir an einer Weggabelung angekommen“, sagt Osama Zaaroub. „Auf unserer Seite schlägt sich die bisher moderate, aber jetzt arbeitslose Jugend des Westjordanlands nun auf die Seite der Hamas oder anderer militanter Gruppen. Bei den Israelis hat die radikale Siedlerbewegung die moderaten Kräfte ja bereits verdrängt.“