Liebe und Moral töten eine Frau
Lüge, Diskriminierung und Fremdenhass im Namen von Religion ergeben eine Mischung, die für eine Unschuldige fatal werden kann.
Können Liebe und Moral, die eigentlich als individuelle und kollektive Tugenden gelten, eine Frau zugrunde richten? Im Linzer Landestheater ist seit Samstagabend zu beobachten, wie sich aus beidem eine Katastrophe zusammenbrauen kann, die einer jungen Frau das Leben nimmt. Gespielt wird die Oper „La Juive“, mit der Komponist Fromental Halévy ab der Uraufführung 1835 in Paris den größten Ruhm seiner Karriere errungen hat.
Ein junger, scheinbar jüdischer Mann versichert der Jüdin Rachel seine Liebe, nimmt am familiären Abendessen im Haus ihres Vaters Éléazar teil, und Seung Jick Kim singt seine Sehnsuchtserklärungen mit so verführerisch klarer, ebenmäßig leuchtender Tenorstimme, als hätte er sich’s bei Odysseus’ Sirenen abgehört. Rachel widersteht. Aber als sie, allein im Zimmer, den Tisch abräumt, bekennt auch sie ihren Wunsch: „Er wird kommen.“
Und Erica Eloff als Rachel entfaltet in dieser Szene – zu der achtsam von Yannis Pouspourikas dirigierten Orchesterbegleitung – die Höhen und Abgründe einer weiblichen Singstimme: wünschende Zartheit für „Er wird kommen“, ahnungsvolle Angst und tiefgründiges Hadern mit Begehren und Gefahr.
Noch mehr: Als Rachel dem Werben nachgibt, mit langem Kuss das ewige Liebesglück eröffnet glaubt und ihren Vater Éléazar einweiht, gibt sich Léopold als Lügner zu erkennen: Er hat eine andere Verlobte, und er ist Christ. Erica Eloff, soeben noch mädchenhaft hell singend, reagiert mit dramatisch brodelndem Furor.
Das ergibt ein doppeltes Schlamassel. Zum einen spielt „La Juive“im Mittelalter des Jahres 1414, als die herrschende Moral jede Liebesbeziehung zwischen christlichen und jüdischen Menschen mit Todesstrafen quittiert – und das in einem Rundumschlag für christlichen Mann, jüdische Tochter samt ihrem Vater. Zum anderen bietet diese Szene exemplarisch die Vorzüge dieser Neuinszenierung, allen voran: herrliche Stimmen. Seung Jick Kim als jämmerlicher Lügner singt sein „Dein Herz gehört mir“noch immer mit verführerisch inbrünstigem Tenor, Erica Eloff formuliert
Regieverweise auf den neuen Extremismus
dazu Zorn, rasende Angst vor Tod und rachsüchtigem Gott sowie ihre Pflicht und Liebe für ihren Vater, und Matjaž Stopinšek als dieser Éléazar vollendet mit furiosem Tenor dieses tolle, facettenreiche Existenznot erfassende Terzett.
Fromental Halévy bietet mit „La Juive“packende Grande-Opera-Musik, die das Bruckner Orchester samt reichlicher Beteiligung von Chor und Extrachor des Linzer Landestheaters prächtig umsetzt, sowie etwas Ungewöhnliches: Viele Arien sind stellenweise kaum oder gar nicht vom Orchester begleitet. In der Premiere am Samstag wurde dies dank der exzellenten Sänger zum Pfund. So vermittelt Dominik Nekel mit fülliger Bassstimme die machtvolle Autorität des Kardinal Brogni ebenso wie die intime Verletzlichkeit dieses alten Vaters, seine Willigkeit zur Gnade oder sein inniges Beten. Ilona Revolskaya in
der Rolle der Eudoxie, also der auf Macht und Ansehen erpichten Gegenspielerin Rachels, betört mit kernigem Sopran samt fabelhaft exaltiertem Vibrato.
Marc Adam bewährt sich als behutsamer, kluger Regisseur: Er erzählt die Geschichte. Wie Sven Bindseil mit den Kostümen unterstreicht er die vielfältigen Charaktere mit gestischen, szenischen Details. Éléazar als Zentralfigur des Juden – offenbar ein Verwandter vom „Kaufmann von Venedig“wie von „Nathan der Weise“– ist liebender Vater, geschäftsbedachter Goldschmied und diskriminierter, ausgegrenzter,
ja, sogar gehetzter Außenseiter.
Marc Adam bricht den emotionell wie politisch grandios gebauten Plot von Eugène Scribe nicht auf. Und doch – es geht ja um Judenhass – setzen er und Bühnenbildner Dieter Richter Anhaltspunkte für Assoziationen zum Heute, indem etwa eine opulente Chor- und Volksszene in das umformuliert wird, was wir heute als rechtsextreme Demonstration erkennen.
Oper: