Ein Stoff belebt viele Sinne
Monika Helfer erzählt in ihrem neuen Buch unter anderem vom Reiz der Textilien für Augen, Tastsinn und Nase.
Wir verbergen unsere Haut, indem wir ihr etwas überziehen: fein Gesticktes, grob Gewebtes, exklusiv Geschneidertes, Brokatiges, Spitziges oder Schwarzes wie Tinte. Warum tun wir das? Schämen wir uns für unsere glatte oder schon gefältelte Ursprungseinkleidung, die alle gleich macht und doch unterschiedlich? Schämt sich die Haut für uns? Oder wollen wir sie nicht herzeigen, weil sie etwas ist, das uns gehört, über das nur wir verfügen? Solche Fragen stellt Monika Helfer in ihrem neuen Buch „Der Stoff“.
Dieses ist eine Liebeserklärung an Textilien aller Art, und das mit Einblicken in ihr Familienleben. So beschreibt die Autorin, was ihre Eltern und die verunglückte Tochter Paula jeweils im Sarg trugen.
Schon in der Jugend hatte Monika Helfer in ihrer Begeisterung für Stoffe fünf Schulhefte gekauft (mit dem aus der Zuckerdose der Tante gestohlenen Geld), um geliebte Textilreste einzukleben, die Geschichten erzählen, die nicht geschrieben sind. Auch die Großmutter hatte so ein Stoffheft gehabt, einen Katalog genau genommen, ein Geschenk der Herrschaft, bei der sie gearbeitet hatte und der ihre Liebe zu Stoffen aufgefallen war.
Es tauchen Figuren auf wie Dorian Gray oder der heilige Martin, der seinen Stoffmantel für einen Bettler zerteilt, ein Mann mit Stierhörnern, Fellmütze und nacktem, tätowiertem Oberkörper beim Sturm auf das Kapitol, dazwischen auch Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“oder Adam und Eva, die, plötzlich der
Sünde bewusst, die Hände auf ihre Scham legten – für Monika Helfer der Anfang der Bekleidung.
Sie hatte zunächst aus der Not eine Tugend gemacht und Kleidungsstücke aus zweiter Hand verziert und umgemodelt, sodass – bis heute – ihrem Outfit immer etwas Exquisites anhaftet: „Es ist ein gutes Gefühl, fabelhaft gekleidet zu sein.“
Aber auch der Geruch der Stoffe wird unter die Nase genommen. Da riecht ungebrauchte Seide für sie nach Meer oder „nach heißen Steinen,
auf die ein kurzer Sommerregen fällt“, und Loden nach Schweiß. Mit gebrauchten Stoffen sei es wie der Hausgeruch, der sich durch die Kocherei und durch die Menschen festsetzt. So konnte Monika Helfer als Kind riechen, welcher der vier Onkel mit seinem jeweils einzigen Anzug zu Besuch war: Der eine roch nach Zigaretten, der andere nach Metall, der dritte nach Stall.
Auch das Wort „Gewand“wird unter die Lupe genommen. Es lässt sich auf das mittelhochdeutsche „gewant“zurückführen, „das gefaltete Tuch, das Gewendete“, also auf den Brauch armer Leute, abgenutzte Kleidungsstücke aufzutrennen und die Stoffe zu wenden. Die Vorarlberger Textilindustrie mit den Hochzeiten der Lustenauer Spitzen, die sich in Afrika bestens verkauften, fehlt ebenso wenig wie die Nähmaschine,
weil Liebe zum Stoff dazu führt, ihn behandeln zu wollen. „Genähte Erinnerungen“nennt Monika Helfer dieses Kapitel, in dem sie Kleidung, die sie für ihre Kinder schneiderte, durch Geschichten aus dem Familienalltag illustriert: von der Vorliebe ihres Mannes Michael Köhlmeier für Golffalten am Jackenrücken und jener ihres Sohnes Lorenz für Schwarz; vom Laden Bottoni, wo sie in Stoffen wühlen durfte – mit einer Ratte, die am Ballen knabberte – oder von gefräßigen Motten, die den Kaschmirpulli zerlegten. Der Essay endet so abrupt wie manchmal das Leben: „Als ich gestorben war, begrub man mich in einem Sarg, ausgeschlagen mit handgefertigtem Filz, weil er Wärme hält, was bei einem Toten Luxus ist“, und mit einer kurzen Replik auf Arm und Reich.