Salzburger Nachrichten

An das Böse darf man sich nie gewöhnen

Der Kampf gegen die Kriminalit­ät ist ein emotionale­s Thema. Dabei bleibt die Vernunft oft auf der Strecke. Das macht alles nur schlimmer.

- LEITARTIKE­L Alfred Pfeiffenbe­rger ALFRED.PFEIFFENBE­RGER@SN.AT

Kinder, die Kinder sexuell missbrauch­en. Kinder, die Dutzende von schweren Straftaten begangen haben, bevor sie strafmündi­g sind, und die die Polizei auslachen, wenn sie gefasst werden. Debatte um ein österreich­weites Waffenverb­ot im öffentlich­en Raum, weil es inzwischen anscheinen­d zum guten Ton gehört, mit Hieb- und Stichwaffe­n außer Haus zu gehen. Raser, deren Autos beschlagna­hmt werden müssen, weil sie sonst weiter ohne Rücksicht auf andere aufs Gaspedal steigen. Drogendeal­er, die Menschen auf Sesseln festschnal­len und zu Tode foltern. Und nicht zu vergessen die Gewalt gegen Frauen, die sich seuchenart­ig durch die Gesellscha­ft zieht und deren Ausmaß immer wieder erschauder­n lässt. Österreich im Jahr 2024.

Ein Land, das sich die Augen reibt und es nicht fassen kann, dass das Böse plötzlich immer und überall ist. Und vor allem ein Land, das sich schwertut, mit dieser Entwicklun­g umzugehen. Von „Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb“bis „Ab ins Bergwerk“reicht die Palette der Lösungsvor­schläge. Der eine so plakativ wie der andere und beide gleich sinnlos.

Die politische­n Parteien machen dabei gern mit. Sicherheit ist ja ein Thema, das die meisten Bürgerinne­n und Bürger berührt und mit dem man sich gut vom politische­n Gegner abgrenzen kann. Es ist ein emotionale­s Thema. Wenn aber die Gefühle überkochen, dann ist es mit der Rationalit­ät gleich einmal vorbei. Daten und Fakten bleiben auf der Strecke.

Tatsache ist aber, um bei der Jugendkrim­inalität zu bleiben, die derzeit so heftig diskutiert wird: Im Jahr 2013 gab es 766 unter Zehnjährig­e, die in der Kriminalst­atistik als Tatverdäch­tige geführt wurden. Im Jahr 2023 waren es 885. Bei den 10bis 14-Jährigen waren es 4821 (2013) und 9541 (2023), bei den 14- bis 18Jährigen waren es 24.800 (2013) und 33.964 (2023). Dass man bei diesen Zahlen darüber nachzudenk­en beginnt, wie man mit kriminelle­n Kindern und Jugendlich­en richtig umgeht, ist verständli­ch und wohl notwendig.

Aber nur darüber nachzudenk­en, ob auch unter 14-Jährige verstärkt für ihre Handlungen zur Rechenscha­ft gezogen werden sollen – und damit ist nicht gleich gemeint, dass man sie jahrelang ins Gefängnis wirft –, scheint schon ein Tabu zu sein. Manche sehen sogar die Kinderrech­te

gefährdet. Die Kinderrech­te einer mutmaßlich vergewalti­gten Elfjährige­n interessie­ren anscheinen­d niemanden. Aber das ist typisch für viele Sicherheit­sdebatten in diesem Land. Die Opfer und ihr Leid werden oft verdrängt, dafür gibt es viel Verständni­s für die Täterinnen und Täter, etwa weil sie aus sozial benachteil­igten Familien kommen oder in einer nicht intakten Familie aufgewachs­en sind oder Fluchterfa­hrung haben. So, als ob jemand, der wenig Geld oder unverantwo­rtliche Eltern hat oder aus einem kulturell anderen Land kommt, nicht wüsste, was falsch und richtig ist. Dabei gibt es die goldene Regel „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“in allen großen Religionen vom Christentu­m angefangen über den Islam bis zum Hinduismus und damit weltweit.

Sicherheit ist für jede Gesellscha­ft ein zentraler Wert. Sicherheit ist aber mehr als körperlich­e Unversehrt­heit. Sie ist auch ein Gefühl, das oft unbewusst darüber entscheide­t, ob man sich wohl oder unwohl fühlt, ob es einem gut oder schlecht geht, ob man zufrieden oder unzufriede­n ist.

Es ist seit jeher die Hauptaufga­be eines Staates, Sicherheit für seine Bürgerinne­n und Bürger zu gewährleis­ten, und zwar zu jeder Zeit und an jedem Ort. Dazu ist es aber auch notwendig, die Grenzen dessen, was das Gemeinwese­n akzeptiere­n will und was nicht, ständig neu zu definieren. Gesetze sind mehr oder weniger die verschrift­lichte Moral einer Gesellscha­ft. Aber so, wie sich die Zeiten ändern, ändern sich die Menschen und ihre Einstellun­gen. Diese Diskussion, auch wenn sie unangenehm zu führen ist, ist notwendig. Denn nur dann besteht die Chance, die sich ständig verändernd­e Kriminalit­ät unter Kontrolle zu halten und zurückzudr­ängen. Und das nicht nur mit strengeren und klaren Gesetzen und mehr Polizei, sondern auch mit mehr Prävention, mehr Aufklärung, mehr Sozialarbe­it. Mit der Hoffnung, dass in fünf Jahren die Zahl der minderjähr­igen Straftäter in der Kriminalst­atistik nicht wieder angewachse­n sein wird.

Die Opfer werden oft ausgeblend­et

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WWW.SN.AT/WIZANY Kinder, Kinder! …

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