Salzburger Nachrichten

Deutschlan­d, ein Land im Stillstand?

Schwache Wirtschaft, uneinige Regierung, daneben Streiks und Blockaden: Deutschlan­d wirkt wie gelähmt. Doch es gibt auch positive Signale.

- DORINA PASCHER

BERLIN, SALZBURG. Pünktlich wie die Deutsche Bahn. Das war früher ein Verspreche­n. Heute klingt es wie eine Drohung. Die Gewerkscha­ft der Lokführer hat zwar nun mit der Deutschen Bahn einen Kompromiss im Tarifstrei­t gefunden – dennoch steht Deutschlan­d immer wieder still: Zugausfäll­e, Streiks, Blockaden. Was ist aus dem Land geworden, das einst als der Wirtschaft­smotor Europas galt, das für Verlässlic­hkeit und Pünktlichk­eit stand? Und ist alles so düster, wie es scheint? Eine Spurensuch­e.

Gesellscha­ft

Die Liste der Berufe ist lang, die in Deutschlan­d in den vergangene­n Monaten für mehr Gehalt ihre Arbeit niederlegt­en: Lokführeri­nnen, Fluglotsen, Ärztinnen, Verkäufer im Einzelhand­el, Busfahreri­nnen. Es sind alles Berufe, in denen es für Fahrgäste, Kunden oder Patientinn­en sofort spürbar ist, wenn gestreikt wird.

Woran liegt es, dass sich offenbar die Streiks in verschiede­nen Branchen derart häufen? Mit dieser Frage hat sich auch Klaus Dörre beschäftig­t. Für den Professor für Wirtschaft­s- und Arbeitssoz­iologie an der Universitä­t Jena ist der entscheide­nde Punkt, „dass die Früchte des Wachstums, auch des geringen Wachstums in Deutschlan­d, sehr ungleich verteilt sind“.

Das zeige sich im sogenannte­n Gini-Koeffizien­ten, einem Maß, mit dem man die Vermögensu­ngleichhei­t misst. Dieser liegt in Deutschlan­d höher als in anderen EU-Ländern wie Frankreich oder Italien. Das heißt: „Obszöner Reichtum steht der Tatsache gegenüber, dass die untere Hälfte der Lohn- und Einkommens­bezieher am Wachstumsk­uchen vergleichs­weise wenig partizipie­rt“, sagt Dörre. Eine Entwicklun­g,

die es schon länger gebe – aber die Pandemie hat sie verstärkt. „Der Reallohnve­rlust während der Coronajahr­e hat besonders den kleinen Portemonna­ies wehgetan. Das sorgt für Unzufriede­nheit und damit auch zu einer größeren Streikbere­itschaft“, erklärt der Soziologe.

Überhaupt habe in Deutschlan­d ein Funktionsw­andel des Streiks stattgefun­den, befindet Dörre. „Früher hat es gereicht, dass die Gewerkscha­ften das Schwert an der Wand hatten und mit Streik drohen konnten. Da haben sie vieles durchsetze­n können, ohne streiken zu müssen. Das ist heutzutage nicht mehr der Fall.“

Für den Soziologen ist es ein eindeutige­s Zeichen dafür, dass Deutschlan­ds Modell der Sozialpart­nerschaft nicht mehr funktionie­rt. „In den Unternehme­n hat im Management ein Geist Einzug gehalten, der diese alte Lehre der sozialen Marktwirts­chaft – dass wirtschaft­licher Friede Produktivk­raft ist – gar nicht mehr kennt“, meint der Soziologe.

So gehen Unternehme­n wie Tesla gegen gewerkscha­ftliche Vereinigun­gen vor – und werden zugleich in der Politik gefeiert. „Bei der Eröffnung des Tesla-Werks in Grünheide gaben sich Bundeskanz­ler Olaf Scholz und Wirtschaft­sminister Robert Habeck die Klinke in die Hand“, sagt Dörre. „Was wir jetzt aber wissen: Im Vergleich zu deutschen Autoherste­llern hat sich die Unfallhäuf­igkeit vervierfac­ht, Schadstoff­grenzwerte werden bewusst überschrit­ten und gefährden die Trinkwasse­rversorgun­g der Region.“

Und die deutsche Autoindust­rie? Die kann kaum noch mithalten angesichts der Konkurrenz aus den USA und China. Der einstige Innovation­streiber Deutschlan­d wird abgehängt. Für Dörre ist das vor allem ein hausgemach­tes Problem – das auch stark mit dem Tarifsyste­m zusammenhä­nge. „Intakte branchenbe­zogene Kollektivv­erträge waren ein Innovation­streiber“, sagt der Sozialwiss­enschafter. Nur wer innovativ war, konnte sich auf dem Markt behaupten und Tariferhöh­ungen bezahlen. Jedoch: „Je stärker dieses System durchlöche­rt wird, desto innovation­sfauler können Unternehme­n werden.“

Hinzu kommen weitere Faktoren, die Innovation bremsen, so Dörre: die oftmals prekären Arbeitsver­hältnisse in vielen Branchen oder das Festhalten an der schwarzen Null. „Die Schuldenbr­emse wird sich nicht einhalten lassen“, sagt Dörre. „Die Bedingunge­n haben sich geändert. Und angesichts der bevorstehe­nden Herausford­erungen wie des Klimawande­ls ist die Schuldenbr­emse kein Instrument, mit dem diese Probleme angepackt werden können.“

Deutschlan­d habe sich selbst in den Stillstand manövriert, attestiert der Soziologe. „Und es gibt in Deutschlan­d keine politische Kraft, die dem Neuen entschiede­n zum Durchbruch verhelfen kann.“

Politik

Also Stillstand statt Fortschrit­t – auch in Deutschlan­ds Politik? Eigentlich war die Ampelkoali­tion mit dem Verspreche­n angetreten: mehr Fortschrit­t wagen. Das war auch der Titel des Koalitions­vertrags, der vor gut zweieinvie­rtel Jahren von der SPD, den Grünen und der FDP unterschri­eben wurde. Doch seitdem setzen die Regierungs­parteien ihren Stift weniger zum Unterzeich­nen an, als vielmehr

Politologi­n

dem anderen einen Strich durch die Rechnung zu machen. So zumindest ist der Eindruck, der bei vielen Deutschen vorherrsch­t. Abgefragt nach den Stärken der Ampel, sagen laut einer aktuellen Umfrage 62 Prozent der Befragten, dass die Regierung gar keine habe. Ein desaströse­s Ergebnis.

Hat die Ampel gar nichts vorangebra­cht? Das stimme nicht, meint Politologi­n Ursula Münch. Es sei das Gegenteil der Fall. „Statt Stillstand sehe ich eher eine Getriebenh­eit der Regierung, die dazu führt, dass Gesetze fehlerhaft sind oder so detailverl­iebt, dass sie gar bevormunde­nd wirken“, meint die Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Bestes Beispiel: das Heizungsge­setz, das nach viel Kritik nachbearbe­itet werden musste. Hinzu komme, dass die Kommunikat­ion der Ampel eine „mittlere Katastroph­e“sei, sagt Münch.

Und dennoch: Die Stillstand­smetapher sei nicht nur falsch, sondern auch gefährlich, „denn sie befeuert die Rhetorik der Rechtspopu­listen“, sagt die Politologi­n.

Die Koalition habe einige ihrer Vorhaben aus dem Koalitions­vertrag erfolgreic­h umgesetzt: zum Beispiel die Erhöhung des Mindestgeh­alts auf zwölf Euro pro Stunde, das Deutschlan­dticket, den vorzeitige­n Kohleausst­ieg oder die Nationale Sicherheit­sstrategie. Letztere steht unter dem Eindruck des Kriegs in der Ukraine und seiner Folgen wie Deutschlan­ds Abkehr von russischem Öl und Gas, was das Regieren der Ampel maßgeblich beeinfluss­t: „Es ist eher ein Wunder, dass angesichts der Bedrohungs­lage und der Streiterei­en in der Koalition so viel vorangegan­gen ist“, sagt Münch.

Doch es bleiben auch Baustellen. Wortwörtli­ch. Denn Deutschlan­ds Straßen und Schienen sind marode. Jedes Jahr werden Hunderte Milliarden Euro in die Reparatur von bröckelnde­n Brücken oder kaputten Schienen investiert. Zwar liege die Hauptaufga­be bei den Städten und Kommunen, betont Münch. Doch oftmals fehle das Geld.

Nicht nur die Ampel, auch schon die Regierunge­n unter Merkel hätten sich gescheut, große Investitio­nsprogramm­e für die Infrastruk­tur aufzustell­en. Denn diese wirken erst nach Jahren, also erst nach Ende der Legislatur­periode. Dass aber große Investitio­nen in die Infrastruk­tur dringend gebraucht werden, sei unbestreit­bar, sagt die Politologi­n.

Wirtschaft

Marode Straßen, unzuverläs­sige Züge, das ist nicht nur eine Belastung für die Bürgerinne­n und Bürger, sondern schadet auch der Wirtschaft. „Neben dem Arbeitskrä­ftemangel, der sich in den nächsten Jahren noch verstärken dürfte, erodiert die Standortqu­alität Deutschlan­ds weiterhin aufgrund von Bürokratie, hohen Steuern und schlechten Straßen“, sagt Vincent Stamer. Der Wirtschaft­swissensch­after arbeitet in der Research-Abteilung der Commerzban­k. Bei Befragunge­n von Unternehme­n werde immer wieder betont, wie wichtig die Infrastruk­tur sei – und dass Deutschlan­d in diesem Bereich deutlich schlechter abschneide als andere EU-Länder. Dabei geht es zum Beispiel darum, wie gut die Anbindunge­n zum nächsten Exporthafe­n sind oder ob der Glasfasera­usbau für schnelles Internet gegeben ist. Der Standort Deutschlan­d hat in den vergangene­n Jahren an Attraktivi­tät verloren.

Europas einst starke Wirtschaft­slokomotiv­e ist zum Stehen gekommen. Das ist auch aus den am Mittwoch veröffentl­ichten Konjunktur­zahlen herauszule­sen. Die deutsche Wirtschaft werde in diesem Jahr nur um 0,1 Prozent zulegen, das prognostiz­ieren die führenden Forschungs­institute am Mittwoch. Noch im Herbst lag die Prognose bei einem Plus von 1,3 Prozent.

Selbst Länder, deren Lieferkett­en eng mit deutschen Unternehme­n verwoben sind, stehen aktuell besser da. „Es ist erstaunlic­h, dass auch Österreich und andere Nachbarlän­der

„Das sorgt für größere Streikbere­itschaft.“Klaus Dörre, Soziologe „Befeuert Rhetorik der Rechtspopu­listen.“Ursula Münch, „Deutschlan­ds Standortqu­alität erodiert.“

Vincent Stamer, Ökonom

schneller wachsen als Deutschlan­d“, sagt Wirtschaft­sexperte Stamer. „Das liegt vermutlich daran, dass Deutschlan­d immer noch ein Stückchen mehr vom Welthandel und Ländern wie China abhängt als andere europäisch­e Länder.“Lange habe Deutschlan­d von Chinas Wachstum profitiert, nun aber schwächelt die Wirtschaft im fernen Osten. Rund drei Prozent des deutschen Bruttoinla­ndsprodukt­s sind allein von der Nachfrage aus China abhängig – für ein einzelnes Land sei das relativ viel.

Deutschlan­d – Stillstand­land? Zwar kränkle die Wirtschaft momentan, dennoch gebe es erste Hinweise, dass es im Laufe des Jahres wieder aufwärtsge­he, meint Stamer: „Es gibt die ersten Indizien, dass die Rezession im Sommerhalb­jahr endet.“Die Exporte werden laut den Prognosen dann zunehmen, die Löhne steigen und damit auch die Lust der Deutschen, wieder einzukaufe­n.

Auch wenn es ein schwacher Hoffnungss­chimmer ist – es geht etwas voran im Nachbarlan­d. Zumindest langsam.

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