Kulturdebatte plus Wahlkampf ergibt Kulturkampf
Müssen jetzt alle Schnitzel essen und Gabalier hören? Nein. Aber es schadet nichts, die Grundlagen unserer Kultur zu pflegen.
Leitkultur? Brauchen wir das? Man kann die Sache von zwei Seiten betrachten. Die eine: Es ist Wahlkampf. Die ÖVP blinkt nach rechts und jagt seit Tagen Drohbotschaften durchs Netz wie: „Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen.“Gleichzeitig, welch Zufall, trommelt Integrationsministerin Susanne Raab etliche Experten zusammen, um sich über „österreichische Identität und Leitkultur“den Kopf zu zerbrechen. Dass sich hier eine Ministerin auf Steuerzahlerkosten zur Handlangerin des ÖVP-Wahlkampfes macht, sei am Rande bemerkt, ebenso wie der Umstand, dass der Begriff Leitkultur seit Jahren von weit rechts stehenden Gruppen missbraucht wird. Entsprechend kritisch fiel die Reaktion der Mitte-links-Öffentlichkeit auf die Aktivitäten der ÖVP aus. Man brauche keine Debatte über die Leitkultur, denn: „Die Grenzen setzen die Gesetze“, befand etwa ein prominenter Jurist auf X.
Mit Verlaub, und jetzt sind wir bei der zweiten Seite, von der man die Angelegenheit betrachten muss: Ganz so ist es natürlich nicht. Natürlich reicht das Gesetzbuch keineswegs aus, um jene Art von Zusammenleben zu definieren, auf die sich der überwiegende Teil der österreichischen Gesellschaft in jahrhundertelangem Ringen geeinigt hat. Der Grundsatz „Alle Menschen sind gleich“ist schnell in ein Gesetz geschrieben, doch dieser Grundsatz muss auch gelebt werden. Die Gleichberechtigung der Geschlechter beispielsweise beginnt nicht bei der Setzung einer gesetzlichen Quote für Aufsichtsrätinnen, sondern im Elternhaus, wo die Gleichberechtigung von Buben und Mädchen stattfinden kann – oder auch nicht, und kein Gesetz kann einen Macho-Vater dazu zwingen, seinen Töchtern die gleichen Chancen zu ermöglichen wie seinen Söhnen. Und nein, um auch dieses absichtsvolle Missverständnis aufzuklären: Es geht nicht darum, dass jetzt alle Menschen Schweinsschnitzel essen und Andreas Gabalier hören müssen. Es geht darum, dass unsere Gesellschaft auf Werten des Christen- und des Judentums basiert, die durch die historischen Prozesse der Aufklärung, der Reformation, der philosophischen Auseinandersetzung, der wissenschaftlichen Revolution und der Kunst in Jahrhunderten zu dem geformt wurden, was man als europäische Kultur bezeichnen könnte. Da wir seit Jahren eine kaum gebremste Welle der Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen verzeichnen, geht es auch darum, selbstbewusst auf diese Werte und diese Kultur hinzuweisen. Ob sich Wahlkampfveranstaltungen dazu eignen, sei dahingestellt.