Einmal Wildnis und zurück
Interview. Die Frau, die verloren ging und jahrzehntelang im Dschungel lebte.
aum jemand kennt sie unter ihrem richtigen Namen, doch als „Dschungelkind“wurde sie weltberühmt. Sabine Kuegler wuchs mit ihrer Familie bei den
Fayu auf, einem Volk, das ohne Kontakt zur Außenwelt im Dschungel von Indonesien lebte. Mit 17 Jahren kam sie auf ein Internat am Genfer See. Über ihr Leben in zwei Kulturen und ihre Anpassungsschwierigkeiten hat sie den Weltbestseller „Dschungelkind“geschrieben.
SN: Sie kennen beide Kulturen – den Dschungel und das reiche Industrieland. Welche finden Sie besser? Sabine Kuegler: Die Frage kann ich nicht beantworten. Beide Kulturen haben ihre Vorund Nachteile. Es gibt Tage, an denen ich nur denke: Ich will hier weg. Ich will zurück in den Dschungel. Ich kann nicht mehr. Ich halte diesen massiven Druck, diese ganze Bürokratie, dieses stressige Leben hier im Westen nicht mehr aus. Und dann gibt es Tage, an denen ich es hier wirklich sehr schön finde und alles genieße: Elektrizität, fließend heißes Wasser, Restaurants. Mit welcher Kultur man besser zurechtkommt, kommt darauf an, wo man programmiert wurde und wo man mehr Zeit verbracht hat. Ich komme heute in beiden Welten gut klar.
SN: Sind die Menschen im Dschungel vielleicht doch zufriedener?
Ja, denn ihr Glück hängt nicht davon ab, wie viel sie verdienen, was sie besitzen und welchen beruflichen Status sie haben, sondern von sozialen Verbindungen, einem guten Miteinander, von Familie und Freundschaften. Glück entsteht, wenn man sich im direkten Austausch Zeit füreinander nimmt. Das kann eine Kommunikation über WhatsApp niemals leisten. Darum sind viele Menschen im Westen sehr einsam. Im Dschungel gibt es zwar kaum Privatsphäre, aber dafür auch kaum Depressionen.
SN: Was können die Menschen im Dschungel, die Sie kennengelernt haben, aber dennoch vom Westen lernen?
Die Stärkung der eigenen Identität, Austausch mit außen und Entwicklung. Die weitgehende Aufgabe der eigenen Identität und die Ein- und Unterordnung in die Strukturen des Stammes führt dazu, dass sich die Kulturen kaum weiterentwickeln. Eine Gesellschaft, die sich komplett von äußeren Einflüssen abschneidet, ist wie Wasser, das nicht mehr fließt. Es verrottet. Eine Gemeinschaft, die sich abschottet, bleibt bestenfalls auf dem gleichen Stand stehen, im schlimmsten Fall stirbt sie. Wenn jedoch Individualität gefördert wird, führt das zu mehr Kreativität, Freiheit und Fortschritt.
SN: Warum sind Sie 2012 in den Dschungel zurückgekehrt?
Ich bin schwer erkrankt. Ich war erschöpft, mir brannten die Knochen, ich hatte Fieber, ich konnte vor Schmerzen nicht mehr richtig denken, es war, als wäre mein ganzer Körper gelähmt. Ich bin von einem Arzt zum anderen gegangen. Es wurde jeder Test gemacht, jedes Organ untersucht, 100 Mal mein Blut analysiert. Das Tropeninstitut vermutete schließlich, dass ich mir im Dschungel einen tropischen Parasiten eingefangen hatte. Die Ärzte verschrieben mir ein Antibiotikum, aber es brachte nichts. Man sagte mir, dass man nichts mehr für mich machen könne. Die Schulmedizin hatte mich aufgegeben. Aber ich habe mir gedacht: Ich darf nicht sterben, ich habe vier Kinder!
SN: Was dann?
Ich habe mir gesagt: Wenn ich mir die Krankheit im Urwald eingefangen habe und mir hier niemand helfen kann, kann ich nur noch bei den Stämmen im Urwald jemanden finden, der die Krankheit und ein Heilmittel kennt. Ich wusste, es war meine letzte Überlebenschance.
SN: Dort bekamen Sie dann einen Rindenextrakt. Was passierte?
Ich wäre fast gestorben. Ich hatte unerträgliche Schmerzen und hohes Fieber und musste mich ständig übergeben. Aber der Medizinmann hatte diese Reaktion vorhergesagt. Die Medizin war ein Gift, das das abgetötet hat, was seit Jahren in meinem Körper wütete. Seither bin ich geheilt. Ich hatte nie wieder Symptome. Es gab aber auch Nebenwirkungen: Ich habe seit der Behandlung nie wieder meine Tage bekommen. Ich hätte also seitdem vermutlich keine weiteren Kinder mehr bekommen können.
SN: Sie schreiben, dass Sie im Westen Fehler gemacht haben, weil Ihnen ein innerer Kompass fehlte. Welche Fehler haben Sie begangen?
Ich habe jeden Fehler gemacht, den man machen konnte. Ich habe die falschen oder – noch schlimmer – gar keine Entscheidungen getroffen. Ich habe jahrzehntelang nicht geplant. Wenn man bei einem Stamm im Dschungel lebt, geht das vielleicht. Der Stamm nimmt einem viele Entscheidungen ab. Im Westen geht das nicht. Ich hatte sehr lange weder Verständnis noch Gefühl für Finanzen und Eigentum. Im Dschungel spielte das keine Rolle. Aber hier muss man sich damit befassen. Ob man will oder nicht.
SN: Hat die Suche nach dem Heilmittel im Dschungel Ihnen geholfen, Ihre Depressionen zu überwinden?
Ich hatte einen Parasiten, keine Depression! Als ich in den Dschungel zurückkehrte, verschwand meine Zerrissenheit, ich hatte endlich wieder das Gefühl, atmen zu können, weil die Menschen dort dachten und fühlten wie ich und mich verstanden. Gleichzeitig habe ich begriffen, was mich nach vielen Jahren im Westen von ihnen trennte. So erkannte ich, wer ich wirklich bin und dass ich beide Kulturen in mir trage. Das gab mir die Möglichkeit, endlich erwachsen zu werden. Zuvor hatte ich immer das Gefühl, auf dem Stand einer 17-Jährigen stehen geblieben zu sein. Mein Erwachsenwerden war die Voraussetzung für meine Integration und mein Glücklichwerden im Westen. Ich habe begriffen, wie es mir gelingen kann, mich in die westliche Kultur zu integrieren, ohne meine Dschungelidentität dafür komplett aufgeben zu müssen.
SN: Wie gelingt Ihnen das?
Indem ich im Dschungel verstanden habe, dass ich im Westen frei bin. Beim Stamm gibt man durch die Einordnung in die Strukturen des Stammes viel Verantwortung und Freiheit ab. Das macht manches einfacher, schränkt aber auch stark ein. Für mich war es ein sehr schmerzhafter Prozess, den Umgang mit der Freiheit zu erlernen. Es ist vergleichbar mit Menschen, die lang im Gefängnis saßen und erst wieder begreifen und lernen müssen, mit der neugewonnenen Freiheit
umzugehen.
SN: Was haben Sie noch über sich gelernt?
Aus meiner Komfortzone zu kommen und klar und deutlich Nein zu sagen. Seitdem ich es tue, habe ich mehr Kontrolle über mein Leben und fühle mich nicht mehr so verloren.