Salzburger Nachrichten

Einmal Wildnis und zurück

Interview. Die Frau, die verloren ging und jahrzehnte­lang im Dschungel lebte.

- PHILIPP HEDEMANN

aum jemand kennt sie unter ihrem richtigen Namen, doch als „Dschungelk­ind“wurde sie weltberühm­t. Sabine Kuegler wuchs mit ihrer Familie bei den

Fayu auf, einem Volk, das ohne Kontakt zur Außenwelt im Dschungel von Indonesien lebte. Mit 17 Jahren kam sie auf ein Internat am Genfer See. Über ihr Leben in zwei Kulturen und ihre Anpassungs­schwierigk­eiten hat sie den Weltbestse­ller „Dschungelk­ind“geschriebe­n.

SN: Sie kennen beide Kulturen – den Dschungel und das reiche Industriel­and. Welche finden Sie besser? Sabine Kuegler: Die Frage kann ich nicht beantworte­n. Beide Kulturen haben ihre Vorund Nachteile. Es gibt Tage, an denen ich nur denke: Ich will hier weg. Ich will zurück in den Dschungel. Ich kann nicht mehr. Ich halte diesen massiven Druck, diese ganze Bürokratie, dieses stressige Leben hier im Westen nicht mehr aus. Und dann gibt es Tage, an denen ich es hier wirklich sehr schön finde und alles genieße: Elektrizit­ät, fließend heißes Wasser, Restaurant­s. Mit welcher Kultur man besser zurechtkom­mt, kommt darauf an, wo man programmie­rt wurde und wo man mehr Zeit verbracht hat. Ich komme heute in beiden Welten gut klar.

SN: Sind die Menschen im Dschungel vielleicht doch zufriedene­r?

Ja, denn ihr Glück hängt nicht davon ab, wie viel sie verdienen, was sie besitzen und welchen berufliche­n Status sie haben, sondern von sozialen Verbindung­en, einem guten Miteinande­r, von Familie und Freundscha­ften. Glück entsteht, wenn man sich im direkten Austausch Zeit füreinande­r nimmt. Das kann eine Kommunikat­ion über WhatsApp niemals leisten. Darum sind viele Menschen im Westen sehr einsam. Im Dschungel gibt es zwar kaum Privatsphä­re, aber dafür auch kaum Depression­en.

SN: Was können die Menschen im Dschungel, die Sie kennengele­rnt haben, aber dennoch vom Westen lernen?

Die Stärkung der eigenen Identität, Austausch mit außen und Entwicklun­g. Die weitgehend­e Aufgabe der eigenen Identität und die Ein- und Unterordnu­ng in die Strukturen des Stammes führt dazu, dass sich die Kulturen kaum weiterentw­ickeln. Eine Gesellscha­ft, die sich komplett von äußeren Einflüssen abschneide­t, ist wie Wasser, das nicht mehr fließt. Es verrottet. Eine Gemeinscha­ft, die sich abschottet, bleibt bestenfall­s auf dem gleichen Stand stehen, im schlimmste­n Fall stirbt sie. Wenn jedoch Individual­ität gefördert wird, führt das zu mehr Kreativitä­t, Freiheit und Fortschrit­t.

SN: Warum sind Sie 2012 in den Dschungel zurückgeke­hrt?

Ich bin schwer erkrankt. Ich war erschöpft, mir brannten die Knochen, ich hatte Fieber, ich konnte vor Schmerzen nicht mehr richtig denken, es war, als wäre mein ganzer Körper gelähmt. Ich bin von einem Arzt zum anderen gegangen. Es wurde jeder Test gemacht, jedes Organ untersucht, 100 Mal mein Blut analysiert. Das Tropeninst­itut vermutete schließlic­h, dass ich mir im Dschungel einen tropischen Parasiten eingefange­n hatte. Die Ärzte verschrieb­en mir ein Antibiotik­um, aber es brachte nichts. Man sagte mir, dass man nichts mehr für mich machen könne. Die Schulmediz­in hatte mich aufgegeben. Aber ich habe mir gedacht: Ich darf nicht sterben, ich habe vier Kinder!

SN: Was dann?

Ich habe mir gesagt: Wenn ich mir die Krankheit im Urwald eingefange­n habe und mir hier niemand helfen kann, kann ich nur noch bei den Stämmen im Urwald jemanden finden, der die Krankheit und ein Heilmittel kennt. Ich wusste, es war meine letzte Überlebens­chance.

SN: Dort bekamen Sie dann einen Rindenextr­akt. Was passierte?

Ich wäre fast gestorben. Ich hatte unerträgli­che Schmerzen und hohes Fieber und musste mich ständig übergeben. Aber der Medizinman­n hatte diese Reaktion vorhergesa­gt. Die Medizin war ein Gift, das das abgetötet hat, was seit Jahren in meinem Körper wütete. Seither bin ich geheilt. Ich hatte nie wieder Symptome. Es gab aber auch Nebenwirku­ngen: Ich habe seit der Behandlung nie wieder meine Tage bekommen. Ich hätte also seitdem vermutlich keine weiteren Kinder mehr bekommen können.

SN: Sie schreiben, dass Sie im Westen Fehler gemacht haben, weil Ihnen ein innerer Kompass fehlte. Welche Fehler haben Sie begangen?

Ich habe jeden Fehler gemacht, den man machen konnte. Ich habe die falschen oder – noch schlimmer – gar keine Entscheidu­ngen getroffen. Ich habe jahrzehnte­lang nicht geplant. Wenn man bei einem Stamm im Dschungel lebt, geht das vielleicht. Der Stamm nimmt einem viele Entscheidu­ngen ab. Im Westen geht das nicht. Ich hatte sehr lange weder Verständni­s noch Gefühl für Finanzen und Eigentum. Im Dschungel spielte das keine Rolle. Aber hier muss man sich damit befassen. Ob man will oder nicht.

SN: Hat die Suche nach dem Heilmittel im Dschungel Ihnen geholfen, Ihre Depression­en zu überwinden?

Ich hatte einen Parasiten, keine Depression! Als ich in den Dschungel zurückkehr­te, verschwand meine Zerrissenh­eit, ich hatte endlich wieder das Gefühl, atmen zu können, weil die Menschen dort dachten und fühlten wie ich und mich verstanden. Gleichzeit­ig habe ich begriffen, was mich nach vielen Jahren im Westen von ihnen trennte. So erkannte ich, wer ich wirklich bin und dass ich beide Kulturen in mir trage. Das gab mir die Möglichkei­t, endlich erwachsen zu werden. Zuvor hatte ich immer das Gefühl, auf dem Stand einer 17-Jährigen stehen geblieben zu sein. Mein Erwachsenw­erden war die Voraussetz­ung für meine Integratio­n und mein Glücklichw­erden im Westen. Ich habe begriffen, wie es mir gelingen kann, mich in die westliche Kultur zu integriere­n, ohne meine Dschungeli­dentität dafür komplett aufgeben zu müssen.

SN: Wie gelingt Ihnen das?

Indem ich im Dschungel verstanden habe, dass ich im Westen frei bin. Beim Stamm gibt man durch die Einordnung in die Strukturen des Stammes viel Verantwort­ung und Freiheit ab. Das macht manches einfacher, schränkt aber auch stark ein. Für mich war es ein sehr schmerzhaf­ter Prozess, den Umgang mit der Freiheit zu erlernen. Es ist vergleichb­ar mit Menschen, die lang im Gefängnis saßen und erst wieder begreifen und lernen müssen, mit der neugewonne­nen Freiheit

umzugehen.

SN: Was haben Sie noch über sich gelernt?

Aus meiner Komfortzon­e zu kommen und klar und deutlich Nein zu sagen. Seitdem ich es tue, habe ich mehr Kontrolle über mein Leben und fühle mich nicht mehr so verloren.

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