Rauriser Literaturtage spüren Zusammenleben auf
Ein weites Feld tut sich auf, wenn die Leiter der Rauriser Literaturtage, Ines Schütz und Manfred Mittermayer, heuer „Geschichten vom Zusammenleben“als Themenschwerpunkt gewählt haben. Vom Familienroman bis zum Zusammenraufen eines Paares, vom überschaubaren Lebensraum Schule bis zu Zufallsgemeinschaften von Menschen auf der Flucht gab es bis Sonntag eine Menge Forschungsmaterial. Sobald jemand im Unheimlichen nachbohrt, kommen
Geschichten zum Vorschein, die den Menschen als Konfliktfall der Geschichte ausmachen.
Zwei Menschen reichen, damit Spannung entsteht. Um wie viel verheerender wirkt sich diese auf Einzelne aus, wenn eine politische Macht dahintersteht! Davon weiß Irene Langemann zu erzählen in ihrem Debüt „Das Gedächtnis der Töchter“, an dem sie viele Jahre gearbeitet und das Manuskript sprachlich entschlackt hat: Nie sollte es zu emotional, gar larmoyant werden. Langemann kam 1990 aus der Sowjetunion nach Deutschland, wo sie als Dokumentarfilmerin arbeitete. Für die eigene Familiengeschichte wandte sie sich der Fiktion zu, um Distanz zu gewinnen. Über sechs Generationen erstreckt sich der Roman einer Familie, die im 19. Jahrhundert aus Westpreußen nach Russland ausgewandert war. Als gläubige Mennoniten kamen sie im Zarenreich unter dem Zeichen der Religionsfreiheit zu kleinem Wohlstand. Unter Stalin und nach dem Überfall HitlerDeutschlands auf die Sowjetunion wurden die Deutschsprachigen nach Sibirien verbracht. Dort wurde Irene Langemann 1959 geboren und als Kind als Faschistin beschimpft. Der Roman arbeitet das kollektive Trauma auf.
Die Familie leidet: Dies ist der Ansatz Irene Langemanns. Dagegen erhebt Sabine Gruber Einspruch: Die Einzelne leidet. So erzählt sie im Roman „Die Dauer der Liebe“, wie eine Frau, deren Lebensgefährte verstorben ist, von dessen Familie an den Rand gedrückt wird. Die beiden waren viele Jahre ein Paar, aber nicht verheiratet. Also hat sie keinen Anspruch auf sein Erbe. Der Roman bringt persönliche Erfahrungen in die Fiktion, was Überschneidungen mit der Biografie möglich macht, aber nicht als Abbild des Erlebten durchgehen darf. Ein Liebesroman ebenso wie ein Roman der Perfidie einer Familie, die sich Vorteile gegen alle Gesetze der Lauterkeit krallt. Das ist die Chance von Rauris, dass unterschiedliche Haltungen unmittelbar aufeinanderprallen. Und wer hat recht? Beide natürlich.
Zu den glücklichen Einführungen gehört ein Lyrikschwerpunkt, zu dem neben Anja Utler und José F. Oliver auch Jan Wagner geladen war. Von seiner Begeisterung profitierten Studierende der Universität Wien, die mit ihm eine Fragestunde bestritten. Er spricht über seine Vorliebe für klassische Formen und kennt keine Scheu, Reime einzusetzen. Vor allem der schiefe, nicht perfekte, „schmutzige Reim“– „Feuer“und „Foyer“wäre ein Beispiel – habe es ihm angetan. Er eröffne Denkwelten und Zusammenhänge, auf die er sonst nie gekommen wäre. Und er schätzt die kleinen Dinge, in denen große Fragen des Menschseins aufgehoben sind.
Die Rauriser Literaturtage haben sich als verlässliche Taktgeber im literarischen Jahresrhythmus bewährt: Man wird etwas klüger durch sie. Das ist viel, oder?