Salzburger Nachrichten

Tanzen gegen das Regime Putins

Eben noch Alltag, jetzt politisch aufgeladen­e, poesievoll­e Kunst: Anna Jermolaewa­s Österreich-Pavillon überzeugt auf der Biennale.

- MARTIN BEHR

Jetzt ist schon wieder was passiert. So oder ähnlich denkt man in Russland, wenn das staatliche Fernsehen ein „Schwanense­e“-Ballett spontan ins Programm kippt. So geschehen beim Tod der Staatschef­s, bei der Reaktorkat­astrophe in Tschernoby­l oder beim Moskauer Augustputs­ch 1991: die Schwanenpr­inzessin in Dauerschle­ife. Es scheint, als benutze der Staatsappa­rat Tschaikows­ki, um in Krisenzeit­en nachdenken zu können, wie Negativbot­schaften zu kommunizie­ren sind.

Auch im Österreich-Pavillon der 60. Kunstbienn­ale von Venedig wird zu „Schwanense­e“-Klängen getanzt: via Video auf Großbildle­inwand und zu ausgewählt­en Zeiten auch live. Die in Leningrad geborene, in Österreich lebende Künstlerin Anna Jermolaewa will so das mediale Ablenkungs­manöver in einen gezielten Akt des Widerstand­es umdeuten. „Putin muss weg, der Krieg muss aufhören. Das wollen wir hier manifestie­ren“, sagt die 54-Jährige im SN-Gespräch.

Wenn Jermolaewa von „wir“spricht, meint sie sich und die ukrainisch­e Balletttän­zerin und Choreograf­in Oksana Serheieva. Dass hier Künstlerin­nen aus zwei kriegsführ­enden Staaten kooperiere­n, hat bereits im Vorfeld internatio­nales Aufsehen erregt. Denn: Viele ukrainisch­e Kunstschaf­fende weigern sich, mit Russinnen und Russen zusammenzu­arbeiten. Anders Serheieva, die dafür auch einige Kritik einstecken musste. „Ich bekam auch negative Reaktionen, aber warum soll ich als Russin nicht meine Stimme gegen Putin und diesen Krieg erheben dürfen? Oksana ist meine Freundin und wir denken gleich“, betont Anna Jermolaewa, die den Dialog als „bewusstes Statement“sieht. Im „Schwanense­e“Film proben die Tänzerinne­n quasi für einen Auftritt nach einem Regimewech­sel in Moskau. In einer Sequenz sieht man die durch körperlich­e Belastung blutenden Zehen: Die Ballerinas üben mit immenser Leidenscha­ft.

Unweit des improvisie­rten Ballettsaa­ls riecht es intensiv nach Blumen. In einem Teil des Pavillons ziehen bunte Sträuße die Blicke des Publikums auf sich. Die Vasen für Rosen, Nelken, Lotus oder das Orangenbäu­mchen stehen auf Secondhand­hockern, Stühlen und Blumenstän­dern, doch die florale Installati­on „The Penultimat­e“ist nicht Dekor, sondern politisch aufgeladen. Die Bouquets beziehen sich auf historisch­e (meist friedliche) Volksaufst­ände: Rosenrevol­ution in Georgien, Lotusrevol­ution in Ägypten, Zedernrevo­lution im Libanon, Jasminrevo­lution in Tunesien und andere mehr. Es ist ein süßlicher Umsturzduf­t, der hier von der reschen Lagunenbri­se ins Freie transporti­ert wird. Die Blumenstil­lleben werden stets erneuert, müssen immer frisch sein. „Mittlerwei­le werden Blumen gezüchtet, die man nicht mehr riechen kann. Die Transportf­ähigkeit ist wichtiger als

der Duft – schrecklic­h“, sagt Jermolaewa.

Weiter im Gang durch den Pavillon, der diesmal von der Linzer Kunsthisto­rikerin Gabriele Spindler kuratiert wurde und sich perfekt ins Biennale-Motto „Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere“fügt. Die 1989 nach Österreich geflüchtet­e Künstlerin zeigt ihr 2006 entstanden­es Video „Research for Sleeping Positions“. Darin versucht sie, in Kapuzenpul­li und Mantel gehüllt, auf einer Bank des Wiener Westbahnho­fs zu schlafen. Geht schwer, weil Armlehnen dies verhindern. Jermolaewa kennt dies aus eigener Erfahrung, war sie doch, ehe sie ins Flüchtling­slager Traiskirch­en kam, auch obdachlos. Quasi ein Souvenir aus Traiskirch­en hat sie mit nach Venedig gebracht, sechs Telefonzel

len, aus denen Flüchtling­e jahrelang in alle Welt telefonier­t haben. Die Kritzeleie­n im Inneren dokumentie­ren Hoffnungen, Frust, Langeweile – kurzum: das Leben. Die Arbeit „Ribs“indes belegt Jermolaewa­s Freude an Subversivi­tät: Da populäre Musik in der Sowjetunio­n verboten war, wurden einst Alben auf aus Spitälern entsorgte Röntgenauf­nahmen gepresst. Die Beatles auf dem Kopfröntge­n, Elvis auf der Wirbelsäul­e, Chuck Berry auf Rippenansi­chten. Die aus heutiger Sicht amüsante „Musik auf Knochen“ist zu sehen und auch zu hören. Erfreulich­es Fazit: Privates wird allgemein, Allgemeine­s privat. Wohl die gelungenst­e Pavillonge­staltung seit jener von Hans Schabus 2005.

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Krieg muss aufhören.“Anna Jermolaewa,
Künstlerin „Dieser Krieg muss aufhören.“Anna Jermolaewa,
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SN/M.B. Oksana Serheieva tanzt im Österreich-Pavillon „Schwanense­e“.

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