Was ist schuld an chronischer Fatigue?
Long Covid sowie die Krankheit ME/CFS beschäftigen viele. Weiterhin sind einige Details dazu umstritten. Hier die zehn zentralen Fragen und Antworten.
WIEN. Die Österreichische Gesellschaft für Neurologie lädt am Freitag zu einem Kongress über die Erkrankung ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom). Passend dazu versuchen die SN mit zwei Fachleuten die wichtigsten Fragen zu ME/CFS aufzulisten und zu klären.
1. Wie erkennt und diagnostiziert man ME/CFS?
Einig sind sich die Mediziner, dass ME/CFS eine sogenannte neuroimmunologische Multisystemerkrankung ist. „Typischerweise leiden ME/CFS-Betroffene unter einer extrem beeinträchtigten Leistungsfähigkeit, die von schwerer körperlicher wie geistiger Fatigue (Ermüdung, Anm.) begleitet wird und mindestens sechs Monate andauert“, heißt es dazu auf dem ME/CFSOnlineschwerpunkt der MedUni Wien. Bekannt ist, dass die Krankheit je nach Schweregrad zu einer weitreichenden Behinderung, Bettlägerigkeit und Pflegebedürftigkeit führen kann. Erstmals wurde ME/CFS 1969 von der Weltgesundheitsorganisation WHO als neurologische Erkrankung eingestuft.
Bei der Diagnose wird oft auf die 2003 von kanadischen Experten erarbeitete Definition verwiesen: Sie nennt als Kriterien für ME/CFS die Symptome Erschöpfung, Schlafstörungen, Schmerzen sowie mindestens zwei weitere neurologische oder kognitive Störungen und mindestens ein vegetatives, neuroendokrines oder immunologisches Symptom, die alle mindestens sechs Monate auftreten müssen.
Der Internist, Kardiologe und Sportmediziner Josef Niebauer, der am Uniklinikum Salzburg das Rehazentrum auch für Long-Covid-Patienten leitet, verwendet ebenso diese Definition, betont aber: „Man betreibt im Wesentlichen eine Ausschlussdiagnose. Wenn man für die genannten Symptome keine anderen Gründe finden, ist es naheliegend, dass ME/CFS vorliegt.“
2. Was kann ME/CFS auslösen?
Kathryn Hoffmann, die Professorin am Zentrum für Public Health der MedUni Wien ist und als eine der führenden ME/CFS-Expertinnen in Österreich gilt, sagt: „In 80 Prozent der Fälle ist klar, dass ME/CFS durch eine Infektion ausgelöst wird.“Es gelte daher als schwerste Form eines postakuten Infektionssyndroms. Bekannte Infektionserreger, die ein solches postakutes Infektionssyndrom wie ME/CFS auslösen könnten, sind laut Hoffmann neben
Kathryn Hoffmann,
SARS-CoV-2 auch das Epstein-BarrVirus (Pfeiffer’sches Drüsenfieber), Influenza, Coxsackie B, Borrelien aber auch West-Nil-Fieber oder Ebola. Hoffmann: „Als weitere Auslöser werden Operationen, SchädelHirn-Traumen oder Traumen der Halswirbelsäule diskutiert.“
3. Kann eine Covid-Impfung ME/CFS auslösen?
Hier verweist Primar Josef Niebauer auf das deutsche Paul-Ehrlich-Institut. Dieses hat schon im Mai 2023 festgestellt, dass „sich kein Risikosignal für das Auftreten dieser Beschwerden nach einer Impfung mit einem bestimmten Covid-19-Impfstoffprodukt“ergebe. Und: Man habe auch keinen medizinisch plausiblen Hinweis auf einen direkten Zusammenhang zwischen ME/CFSBeschwerden
und einer Covid-19Impfung gefunden.
4. Gibt es Risikofaktoren, die ME/CFS begünstigen?
Nein, sagt Hoffmann. Sie ergänzt aber: „Stress scheint ein Risikofaktor zu sein wie für viele andere Erkrankungen auch.“Genetische Faktoren würden immer wieder diskutiert, könnten aber auch nur durch familiäre Häufung von Infektionen zustande kommen.
5. Ist ME/CFS mit Long Covid gleichzusetzen?
Dazu kommt von Hoffmann ein klares Nein, denn: „Long Covid ist ein Überbegriff für alle Schäden, die SARS-CoV-2 im Körper anrichten kann und die länger als vier Wochen bestehen.“
Diese Schäden teile man in drei Gruppen ein: Gruppe eins seien lang anhaltende Schäden durch einen schweren akuten Covid-Verlauf (etwa mit Lungenentzündung, Herzmuskelentzündung, Lungenfibrose, Nierenschäden etc.). Gruppe zwei seien jene Patienten, bei denen Covid zum Neuentstehen oder Verschlechtern eines bestehenden Problems wie einer Autoimmun-, Lungen-, Herz-, Stoffwechsel- oder dementiellen Erkrankungen etc. führe. Gruppe drei seien jene, bei denen es durch Covid-19 zum postakuten Infektionssyndrom PostCovid komme. Hoffmann: „Ein Teil der Post-Covid-Patienten entwickelt ME/CFS.“
6. Wie viele Menschen in Österreich haben ME/CFS?
Vor der Pandemie wurde die Zahl der ME/CFS-Betroffenen in Österreich auf 20.000 bis 30.000 geschätzt. Genaue Zahlen gibt es weiterhin nicht. Die von Betroffenen gegründete Österreichische Gesellschaft für ME/CFS spricht mittlerweile von 26.000 bis 80.000 Erkrankten. Kathryn Hoffmann umreißt die Patientengruppe so: „Klar ist, dass Frauen häufiger betroffen sind, wie von anderen Autoimmunerkrankungen auch, und dass der Altersgipfel dieser Patienten zwischen 30 und 50 Jahren liegt.“
7. Wie lange dauert ME/CFS und ist es heilbar?
Für ME/CFS wird die Heilungsfrage von praktisch allen Fachleuten verneint – wie auch von Kathryn Hoffmann. Zudem seien Spontanremissionen (Symptomreduktion oder Krankheitsüberwindung ohne medizinische Hilfe, Anm.) bei ME/CFSErkrankten sehr selten, sagt sie. ME/CFS sei daher als chronische Erkrankung anzusehen.
Für Long-Covid-Erkrankte gibt eine Studie von Herbert Tilg, Internist an der MedUni Innsbruck, neue Hoffnung: Tilg zeigte, dass alle seine 21 teilnehmenden Probanden nach zwei Jahren keine Covid-Virusteile mehr im Darm hatten und keine Long-Covid-Symptome aufwiesen. Josef Niebauer schildert, dass bei seinen Long-Covid-Patienten „durch die Reha zumindest eine
Verbesserung die Regel ist. Bei den meisten ist die Krankheit irgendwann vorbei. Wir haben aber auch Patienten, die schon seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 betroffen sind, eine lange Odyssee hinter sich haben und erst jetzt bei uns erscheinen.“Ein Hintergrund sei oft, dass diese Patienten erst da physisch in der Lage seien, mehrmals pro Woche zu einer Reha zu kommen und sie auch durchzuhalten.
8. Wieso wird ME/CFS oft als psychisch motiviert abgetan?
Primar Niebauer bestätigt, dass viele Betroffene der Krankheit „unter der Situation leiden, dass man ihnen keinen Glauben schenkt, dass ihnen körperlich etwas fehlt, und man ihnen pauschal unterstellt, dass sie sich nur ,anstellen‘. Damit werden sie stigmatisiert.“Seiner Meinung nach seien alle gut beraten, diesen Patienten zu glauben: „Viele haben eine lange Leidensgeschichte hinter sich. Und niemand von uns würde gern mit ihnen tauschen.“Auch Kathryn Hoffmann sieht es ähnlich und betont, dass es wichtig sei, das noch junge, aber vorhandene Wissen über ME/CFS sowie andere postakute Infektionssyndrome an den Medizin-Universitäten zu lehren. Gleiches gelte für die Aus- und Fortbildung der anderen Gesundheits- und Sozialberufe.
9. Wie und von wem wird ME/CFS behandelt?
Laut Hoffmann gibt es in Österreich trotz Zehntausender Betroffener „im öffentlichen System keine spezifische Behandlungsstelle für diese schwere und komplexe Multisystemerkrankung. Derzeit gibt es nur eine Handvoll Privatärzte, die in Anfragen untergehen und zum großen Teil deshalb auch schon Aufnahmestopp haben.“Die Behandlung ziele derzeit noch auf Symptomlinderung ab, wie auch Niebauer betont. Viele Medikamente dafür könnten aber nur off-label angewendet werden, kritisiert Hofmann, „was auch heißt, dass sie privat zu zahlen sind“.
„Frauen leiden häufiger an ME/CFS.“
10 Sind eigene (Reha-)Zentren oder Ambulanzen für ME/CFS-Patienten sinnvoll?
Hoffmann befürwortet diese Strategie, weil ME/CFS eine Multisystemerkrankung sei und zu ihrer Behandlung fächerübergreifendes Wissen nötig sei: „In Deutschland gibt es deswegen eine Spezialambulanz an der Charité Berlin und eine für Kinder und Jugendliche in München.“Auch in den USA sei an der Eliteuniversität Yale ein spezielles Zentrum für ME/CFS-Patienten eingerichtet worden, sagt sie.