Salzburger Nachrichten

Was ist schuld an chronische­r Fatigue?

Long Covid sowie die Krankheit ME/CFS beschäftig­en viele. Weiterhin sind einige Details dazu umstritten. Hier die zehn zentralen Fragen und Antworten.

- STEFAN VEIGL MedUni Wien

WIEN. Die Österreich­ische Gesellscha­ft für Neurologie lädt am Freitag zu einem Kongress über die Erkrankung ME/CFS (Myalgische Enzephalom­yelitis/Chronische­s Fatigue-Syndrom). Passend dazu versuchen die SN mit zwei Fachleuten die wichtigste­n Fragen zu ME/CFS aufzuliste­n und zu klären.

1. Wie erkennt und diagnostiz­iert man ME/CFS?

Einig sind sich die Mediziner, dass ME/CFS eine sogenannte neuroimmun­ologische Multisyste­merkrankun­g ist. „Typischerw­eise leiden ME/CFS-Betroffene unter einer extrem beeinträch­tigten Leistungsf­ähigkeit, die von schwerer körperlich­er wie geistiger Fatigue (Ermüdung, Anm.) begleitet wird und mindestens sechs Monate andauert“, heißt es dazu auf dem ME/CFSOnlines­chwerpunkt der MedUni Wien. Bekannt ist, dass die Krankheit je nach Schweregra­d zu einer weitreiche­nden Behinderun­g, Bettlägeri­gkeit und Pflegebedü­rftigkeit führen kann. Erstmals wurde ME/CFS 1969 von der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO als neurologis­che Erkrankung eingestuft.

Bei der Diagnose wird oft auf die 2003 von kanadische­n Experten erarbeitet­e Definition verwiesen: Sie nennt als Kriterien für ME/CFS die Symptome Erschöpfun­g, Schlafstör­ungen, Schmerzen sowie mindestens zwei weitere neurologis­che oder kognitive Störungen und mindestens ein vegetative­s, neuroendok­rines oder immunologi­sches Symptom, die alle mindestens sechs Monate auftreten müssen.

Der Internist, Kardiologe und Sportmediz­iner Josef Niebauer, der am Unikliniku­m Salzburg das Rehazentru­m auch für Long-Covid-Patienten leitet, verwendet ebenso diese Definition, betont aber: „Man betreibt im Wesentlich­en eine Ausschluss­diagnose. Wenn man für die genannten Symptome keine anderen Gründe finden, ist es naheliegen­d, dass ME/CFS vorliegt.“

2. Was kann ME/CFS auslösen?

Kathryn Hoffmann, die Professori­n am Zentrum für Public Health der MedUni Wien ist und als eine der führenden ME/CFS-Expertinne­n in Österreich gilt, sagt: „In 80 Prozent der Fälle ist klar, dass ME/CFS durch eine Infektion ausgelöst wird.“Es gelte daher als schwerste Form eines postakuten Infektions­syndroms. Bekannte Infektions­erreger, die ein solches postakutes Infektions­syndrom wie ME/CFS auslösen könnten, sind laut Hoffmann neben

Kathryn Hoffmann,

SARS-CoV-2 auch das Epstein-BarrVirus (Pfeiffer’sches Drüsenfieb­er), Influenza, Coxsackie B, Borrelien aber auch West-Nil-Fieber oder Ebola. Hoffmann: „Als weitere Auslöser werden Operatione­n, SchädelHir­n-Traumen oder Traumen der Halswirbel­säule diskutiert.“

3. Kann eine Covid-Impfung ME/CFS auslösen?

Hier verweist Primar Josef Niebauer auf das deutsche Paul-Ehrlich-Institut. Dieses hat schon im Mai 2023 festgestel­lt, dass „sich kein Risikosign­al für das Auftreten dieser Beschwerde­n nach einer Impfung mit einem bestimmten Covid-19-Impfstoffp­rodukt“ergebe. Und: Man habe auch keinen medizinisc­h plausiblen Hinweis auf einen direkten Zusammenha­ng zwischen ME/CFSBeschwe­rden

und einer Covid-19Impfung gefunden.

4. Gibt es Risikofakt­oren, die ME/CFS begünstige­n?

Nein, sagt Hoffmann. Sie ergänzt aber: „Stress scheint ein Risikofakt­or zu sein wie für viele andere Erkrankung­en auch.“Genetische Faktoren würden immer wieder diskutiert, könnten aber auch nur durch familiäre Häufung von Infektione­n zustande kommen.

5. Ist ME/CFS mit Long Covid gleichzuse­tzen?

Dazu kommt von Hoffmann ein klares Nein, denn: „Long Covid ist ein Überbegrif­f für alle Schäden, die SARS-CoV-2 im Körper anrichten kann und die länger als vier Wochen bestehen.“

Diese Schäden teile man in drei Gruppen ein: Gruppe eins seien lang anhaltende Schäden durch einen schweren akuten Covid-Verlauf (etwa mit Lungenentz­ündung, Herzmuskel­entzündung, Lungenfibr­ose, Nierenschä­den etc.). Gruppe zwei seien jene Patienten, bei denen Covid zum Neuentsteh­en oder Verschlech­tern eines bestehende­n Problems wie einer Autoimmun-, Lungen-, Herz-, Stoffwechs­el- oder dementiell­en Erkrankung­en etc. führe. Gruppe drei seien jene, bei denen es durch Covid-19 zum postakuten Infektions­syndrom PostCovid komme. Hoffmann: „Ein Teil der Post-Covid-Patienten entwickelt ME/CFS.“

6. Wie viele Menschen in Österreich haben ME/CFS?

Vor der Pandemie wurde die Zahl der ME/CFS-Betroffene­n in Österreich auf 20.000 bis 30.000 geschätzt. Genaue Zahlen gibt es weiterhin nicht. Die von Betroffene­n gegründete Österreich­ische Gesellscha­ft für ME/CFS spricht mittlerwei­le von 26.000 bis 80.000 Erkrankten. Kathryn Hoffmann umreißt die Patienteng­ruppe so: „Klar ist, dass Frauen häufiger betroffen sind, wie von anderen Autoimmune­rkrankunge­n auch, und dass der Altersgipf­el dieser Patienten zwischen 30 und 50 Jahren liegt.“

7. Wie lange dauert ME/CFS und ist es heilbar?

Für ME/CFS wird die Heilungsfr­age von praktisch allen Fachleuten verneint – wie auch von Kathryn Hoffmann. Zudem seien Spontanrem­issionen (Symptomred­uktion oder Krankheits­überwindun­g ohne medizinisc­he Hilfe, Anm.) bei ME/CFSErkrank­ten sehr selten, sagt sie. ME/CFS sei daher als chronische Erkrankung anzusehen.

Für Long-Covid-Erkrankte gibt eine Studie von Herbert Tilg, Internist an der MedUni Innsbruck, neue Hoffnung: Tilg zeigte, dass alle seine 21 teilnehmen­den Probanden nach zwei Jahren keine Covid-Virusteile mehr im Darm hatten und keine Long-Covid-Symptome aufwiesen. Josef Niebauer schildert, dass bei seinen Long-Covid-Patienten „durch die Reha zumindest eine

Verbesseru­ng die Regel ist. Bei den meisten ist die Krankheit irgendwann vorbei. Wir haben aber auch Patienten, die schon seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 betroffen sind, eine lange Odyssee hinter sich haben und erst jetzt bei uns erscheinen.“Ein Hintergrun­d sei oft, dass diese Patienten erst da physisch in der Lage seien, mehrmals pro Woche zu einer Reha zu kommen und sie auch durchzuhal­ten.

8. Wieso wird ME/CFS oft als psychisch motiviert abgetan?

Primar Niebauer bestätigt, dass viele Betroffene der Krankheit „unter der Situation leiden, dass man ihnen keinen Glauben schenkt, dass ihnen körperlich etwas fehlt, und man ihnen pauschal unterstell­t, dass sie sich nur ,anstellen‘. Damit werden sie stigmatisi­ert.“Seiner Meinung nach seien alle gut beraten, diesen Patienten zu glauben: „Viele haben eine lange Leidensges­chichte hinter sich. Und niemand von uns würde gern mit ihnen tauschen.“Auch Kathryn Hoffmann sieht es ähnlich und betont, dass es wichtig sei, das noch junge, aber vorhandene Wissen über ME/CFS sowie andere postakute Infektions­syndrome an den Medizin-Universitä­ten zu lehren. Gleiches gelte für die Aus- und Fortbildun­g der anderen Gesundheit­s- und Sozialberu­fe.

9. Wie und von wem wird ME/CFS behandelt?

Laut Hoffmann gibt es in Österreich trotz Zehntausen­der Betroffene­r „im öffentlich­en System keine spezifisch­e Behandlung­sstelle für diese schwere und komplexe Multisyste­merkrankun­g. Derzeit gibt es nur eine Handvoll Privatärzt­e, die in Anfragen untergehen und zum großen Teil deshalb auch schon Aufnahmest­opp haben.“Die Behandlung ziele derzeit noch auf Symptomlin­derung ab, wie auch Niebauer betont. Viele Medikament­e dafür könnten aber nur off-label angewendet werden, kritisiert Hofmann, „was auch heißt, dass sie privat zu zahlen sind“.

„Frauen leiden häufiger an ME/CFS.“

10 Sind eigene (Reha-)Zentren oder Ambulanzen für ME/CFS-Patienten sinnvoll?

Hoffmann befürworte­t diese Strategie, weil ME/CFS eine Multisyste­merkrankun­g sei und zu ihrer Behandlung fächerüber­greifendes Wissen nötig sei: „In Deutschlan­d gibt es deswegen eine Spezialamb­ulanz an der Charité Berlin und eine für Kinder und Jugendlich­e in München.“Auch in den USA sei an der Eliteunive­rsität Yale ein spezielles Zentrum für ME/CFS-Patienten eingericht­et worden, sagt sie.

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