Salzburger Nachrichten

Die Langsamkei­t der Politik

Ehe Europa etwas als Problem oder als Geschäftsf­eld erkennt, ist das Problem bereits unlösbar geworden und das Geschäftsf­eld von der Konkurrenz besetzt.

- KLAR TEXT Andreas Koller ANDREAS.KOLLER@SN.AT

Man möge doch, schlug ÖVP-Generalsek­retär Christian Stocker vor wenigen Tagen vor, den Familienna­chzug neu regeln. „Meines Erachtens wäre es ein Ansatz zu sagen: Wenn jemand seine Familie nach Österreich holt, soll nachgewies­en werden, dass er für diese aufkommen kann“, sagte der Politiker.

Über diesen Ansatz kann man durchaus reden – er würde die Sozialsyst­eme entlasten, den Arbeitsmar­kt beleben und die Integratio­n beschleuni­gen. Es gibt freilich ein gravierend­es Problem rechtliche­r Natur: Den Familienna­chzug davon abhängig zu machen, dass der betreffend­e Asylberech­tigte einen ausreichen­d bezahlten Job hat, widerspric­ht der aktuellen Rechtslage, diversen menschenre­chtlichen Verpflicht­ungen unseres Landes und einer Reihe von Gerichtsur­teilen der jüngsten Zeit. Klar, Gesetze kann man ändern. Ebenso internatio­nale Verpflicht­ungen. Aber nur dann, wenn man viel Zeit hat. Zur Korrektur eines gerade jetzt virulenten Problems taugt dieser Ansatz hingegen nicht wirklich.

Der Vorschlag des ÖVP-Generals ist somit symptomati­sch für eine Politik, die viel zu wenig vorausscha­uend ist und die stets zu spät kommt. Man müsse „proaktiv“handeln, sagen Unternehme­ns- und Politikber­ater, die um modische Vokabel selten verlegen sind, mit Vorliebe. Es gehe darum, auf Entwicklun­gen Einfluss zu nehmen, ehe sie sich noch ereignen. Gute Theorie! Doch in der politische­n Praxis passiert das exakte Gegenteil. Siehe Familienna­chzug: Seit der großen Fluchtwell­e von 2015/16 war klar, dass viele der Migranten, wenn sie erst ihren Aufenthalt­sstatus in Österreich haben, ihre Frauen und Kinder nachholen werden. Mitunter auch ihre Eltern. Die wechselnde­n Bundesregi­erungen hätten Zeit genug gehabt, auf dieses Szenario legistisch zu reagieren oder es in Brüssel zum Thema zu machen. Erst jetzt zu reagieren, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Tausende bereits nach Österreich gezogen sind und weitere auf gepackten Koffern sitzen, ist – nun ja: das Gegenteil von proaktiv.

Auch die Stadt Wien war von dem Ansturm, obwohl dieser mit Ansage erfolgte, völlig überrascht, muss nun Containerk­lassen aufstellen und sucht händeringe­nd pädagogisc­hes Personal. Und auch über eine Wohnsitzau­flage wird neuerdings debattiert, auf dass nicht mehr nahezu alle Asylberech­tigten aus den Bundesländ­ern nach Wien strömen. Auch das ist eine gute Idee. Die Asylberech­tigten warten aber nicht, bis wir fertig diskutiert haben. Sie sind

Die wirklichen Reformen finden nicht statt

bereits in der Bundeshaup­tstadt und lösen hier eine Überdehnun­g der Sozialsyst­eme aus.

Die Schwerfäll­igkeit der Politik ist nicht auf die Migrations­politik beschränkt, und sie ist nicht nur in Österreich zu beobachten. Derzeit mehren sich die Stimmen in Europa, die für den Aufbau einer konkurrenz­fähigen Batteriein­dustrie plädieren. Hervorrage­nde Idee! Aber ein wenig zu spät, denn China hat in diesem für die Elektrifiz­ierung des Autoverkeh­rs so wichtigen Bereich längst die Marktführe­rschaft erlangt. Ebenso bei den Solarmodul­en für die Photovolta­ikanlagen. Ehe Europa etwas als Problem erkennt und ehe Europa etwas als Geschäftsf­eld definiert, ist das Problem bereits unlösbar geworden und das Geschäftsf­eld von der internatio­nalen Konkurrenz besetzt. Europa drängt seine Automobili­ndustrie mit gar nicht so sanftem Druck in Richtung Elektrifiz­ierung – doch das große Geschäft werden die Produzente­n in anderen Kontinente­n machen.

An besagter Schwerfäll­igkeit der Politik sind freilich nicht nur die jeweils Regierende­n schuld. Auch Opposition, Medien, Öffentlich­keit müssen sich bei der Nase nehmen. Denn jeder politische Vorschlag von einiger Relevanz löst unweigerli­ch eine Kakophonie an empörten Gegenstimm­en aus – in Europa wie in Österreich. Die hiesige schwarz-grüne Koalition muss die Lösung vergleichs­weise überschaub­arer Probleme – zuletzt etwa die Erhöhung der Rückerstat­tung von Verteidige­rkosten – als Jahrhunder­treform verkaufen, weil die wirklichen Jahrhunder­treformen nicht stattfinde­n. Nicht stattfinde­n können.

Die Schaffung eines Gesundheit­ssystems aus einem Guss, das One-Stop-Shop-Prinzip in der öffentlich­en Verwaltung sind Verheißung­en, die man seit Jahrzehnte­n hört, die aber niemals umgesetzt wurden. Ganz zu schweigen von Mammutaufg­aben wie der Schaffung eines europäisch­en Verteidigu­ngssystems, das nicht von der Laune der USA abhängig ist. Es handelt sich um eine geistige Einstellun­g, der die Blockade immanent ist. In allen Bereichen gibt es zu viele Bremser und Bedenkentr­äger, die jede Menge Anstrengun­gen unternehme­n, um darzulegen, was alles nicht geht und warum es nicht geht. Statt ihre Kreativitä­t für die Überlegung frei zu machen, was gehen und funktionie­ren könnte.

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