Die Langsamkeit der Politik
Ehe Europa etwas als Problem oder als Geschäftsfeld erkennt, ist das Problem bereits unlösbar geworden und das Geschäftsfeld von der Konkurrenz besetzt.
Man möge doch, schlug ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker vor wenigen Tagen vor, den Familiennachzug neu regeln. „Meines Erachtens wäre es ein Ansatz zu sagen: Wenn jemand seine Familie nach Österreich holt, soll nachgewiesen werden, dass er für diese aufkommen kann“, sagte der Politiker.
Über diesen Ansatz kann man durchaus reden – er würde die Sozialsysteme entlasten, den Arbeitsmarkt beleben und die Integration beschleunigen. Es gibt freilich ein gravierendes Problem rechtlicher Natur: Den Familiennachzug davon abhängig zu machen, dass der betreffende Asylberechtigte einen ausreichend bezahlten Job hat, widerspricht der aktuellen Rechtslage, diversen menschenrechtlichen Verpflichtungen unseres Landes und einer Reihe von Gerichtsurteilen der jüngsten Zeit. Klar, Gesetze kann man ändern. Ebenso internationale Verpflichtungen. Aber nur dann, wenn man viel Zeit hat. Zur Korrektur eines gerade jetzt virulenten Problems taugt dieser Ansatz hingegen nicht wirklich.
Der Vorschlag des ÖVP-Generals ist somit symptomatisch für eine Politik, die viel zu wenig vorausschauend ist und die stets zu spät kommt. Man müsse „proaktiv“handeln, sagen Unternehmens- und Politikberater, die um modische Vokabel selten verlegen sind, mit Vorliebe. Es gehe darum, auf Entwicklungen Einfluss zu nehmen, ehe sie sich noch ereignen. Gute Theorie! Doch in der politischen Praxis passiert das exakte Gegenteil. Siehe Familiennachzug: Seit der großen Fluchtwelle von 2015/16 war klar, dass viele der Migranten, wenn sie erst ihren Aufenthaltsstatus in Österreich haben, ihre Frauen und Kinder nachholen werden. Mitunter auch ihre Eltern. Die wechselnden Bundesregierungen hätten Zeit genug gehabt, auf dieses Szenario legistisch zu reagieren oder es in Brüssel zum Thema zu machen. Erst jetzt zu reagieren, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Tausende bereits nach Österreich gezogen sind und weitere auf gepackten Koffern sitzen, ist – nun ja: das Gegenteil von proaktiv.
Auch die Stadt Wien war von dem Ansturm, obwohl dieser mit Ansage erfolgte, völlig überrascht, muss nun Containerklassen aufstellen und sucht händeringend pädagogisches Personal. Und auch über eine Wohnsitzauflage wird neuerdings debattiert, auf dass nicht mehr nahezu alle Asylberechtigten aus den Bundesländern nach Wien strömen. Auch das ist eine gute Idee. Die Asylberechtigten warten aber nicht, bis wir fertig diskutiert haben. Sie sind
Die wirklichen Reformen finden nicht statt
bereits in der Bundeshauptstadt und lösen hier eine Überdehnung der Sozialsysteme aus.
Die Schwerfälligkeit der Politik ist nicht auf die Migrationspolitik beschränkt, und sie ist nicht nur in Österreich zu beobachten. Derzeit mehren sich die Stimmen in Europa, die für den Aufbau einer konkurrenzfähigen Batterieindustrie plädieren. Hervorragende Idee! Aber ein wenig zu spät, denn China hat in diesem für die Elektrifizierung des Autoverkehrs so wichtigen Bereich längst die Marktführerschaft erlangt. Ebenso bei den Solarmodulen für die Photovoltaikanlagen. Ehe Europa etwas als Problem erkennt und ehe Europa etwas als Geschäftsfeld definiert, ist das Problem bereits unlösbar geworden und das Geschäftsfeld von der internationalen Konkurrenz besetzt. Europa drängt seine Automobilindustrie mit gar nicht so sanftem Druck in Richtung Elektrifizierung – doch das große Geschäft werden die Produzenten in anderen Kontinenten machen.
An besagter Schwerfälligkeit der Politik sind freilich nicht nur die jeweils Regierenden schuld. Auch Opposition, Medien, Öffentlichkeit müssen sich bei der Nase nehmen. Denn jeder politische Vorschlag von einiger Relevanz löst unweigerlich eine Kakophonie an empörten Gegenstimmen aus – in Europa wie in Österreich. Die hiesige schwarz-grüne Koalition muss die Lösung vergleichsweise überschaubarer Probleme – zuletzt etwa die Erhöhung der Rückerstattung von Verteidigerkosten – als Jahrhundertreform verkaufen, weil die wirklichen Jahrhundertreformen nicht stattfinden. Nicht stattfinden können.
Die Schaffung eines Gesundheitssystems aus einem Guss, das One-Stop-Shop-Prinzip in der öffentlichen Verwaltung sind Verheißungen, die man seit Jahrzehnten hört, die aber niemals umgesetzt wurden. Ganz zu schweigen von Mammutaufgaben wie der Schaffung eines europäischen Verteidigungssystems, das nicht von der Laune der USA abhängig ist. Es handelt sich um eine geistige Einstellung, der die Blockade immanent ist. In allen Bereichen gibt es zu viele Bremser und Bedenkenträger, die jede Menge Anstrengungen unternehmen, um darzulegen, was alles nicht geht und warum es nicht geht. Statt ihre Kreativität für die Überlegung frei zu machen, was gehen und funktionieren könnte.