Soll man Parteiprogramme lesen oder nicht?
Die Frage, wie man seine Wahlentscheidung trifft, ist so heikel wie die Wahlentscheidung selbst.
Soll man sich, ehe man wählen geht, mit den Programmen der antretenden Kandidaten und Parteien befassen? – Auf diese gerade in einem Wahljahr virulente Frage gibt es zwei divergierende Antworten.
Der US-amerikanische Ökonom Anthony Downs stellte fest: Parteien wollen nicht Wahlen gewinnen, um ihr Programm zu verwirklichen, sondern geben sich ein Programm, um Wahlen zu gewinnen. – So gesehen würde es sich nicht lohnen, Programme zu lesen. Man würde den Parteien geradezu auf ihre Tricks hereinfallen, wenn man es täte.
Ein anderer Ökonom ging die Frage mathematisch an. Er errechnete, wie viel Zeit einen Bürger die Beschäftigung mit den Programmen der kandidierenden Parteien kostet. Dem stellte er den Gewinn gegenüber, den der Wähler durch die Stimmabgabe für eine bestimmte Partei (etwa auf dem Wege einer von ihr durchgeführten Steuersenkung) erzielen kann.
Das Ergebnis: Der Effekt, den ein einzelner Wähler mit seiner Stimme erzielt, sei so gering, dass es sich nicht lohne, viel Zeit in die Überlegung zu investieren, wen man wählen soll. – Das ist die eine Seite.
Die andere Seite, die in der Debatte vertreten wird, ist, dass es die Pflicht der Bürger sei, ihre Wahlentscheidung auf möglichst sachlicher Grundlage zu treffen und sich daher für die Programme der Parteien zu interessieren. So schrieb der berühmte österreichische Nationalökonom Ludwig von Mises:
„Die erste Pflicht eines Bürgers einer demokratischen Gemeinschaft ist, sich selbst zu bilden und das Wissen zu erwerben, das er benötigt, um sich mit staatsbürgerlichen Angelegenheiten zu befassen.“Das Stimmrecht, so fuhr Mises fort, sei eine Pflicht und eine moralische Verantwortung, denn: „Im Grunde ist ein Wähler ein Amtsinhaber. Sein Amt ist das höchste und bringt die höchste Verpflichtung mit sich.“Und, so Mises: „Die Demokratie ist kein Gut, dessen sich Menschen ohne Unannehmlichkeiten erfreuen können.“
Am Ende gibt der strenge Wissenschafter also immerhin zu, dass das Studium von Wahlprogrammen zu den ausgewiesenen Unannehmlichkeiten gehört – irgendwo zwischen Verkehrsstau und Zahnarztbesuch.
Andererseits: Auf welcher Basis soll man seine Wahlentscheidung sonst treffen? Aufgrund von Sympathie und Antipathie? Aus Rache für tatsächlich oder vermeintlich Erlittenes? Oder aus Begeisterung über ein Wahlversprechen? Das wäre – wie jeder weiß, der schon mehrmals gewählt hat – nicht sehr klug.
Im Grunde steht man als Wähler nicht nur vor der Wahlentscheidung, sondern auch vor der Frage, auf welche Weise man sie fällt. Man sollte beide Entscheidungen bewusst treffen.