Salzburger Nachrichten

Soll man Parteiprog­ramme lesen oder nicht?

Die Frage, wie man seine Wahlentsch­eidung trifft, ist so heikel wie die Wahlentsch­eidung selbst.

- Alexander Purger

Soll man sich, ehe man wählen geht, mit den Programmen der antretende­n Kandidaten und Parteien befassen? – Auf diese gerade in einem Wahljahr virulente Frage gibt es zwei divergiere­nde Antworten.

Der US-amerikanis­che Ökonom Anthony Downs stellte fest: Parteien wollen nicht Wahlen gewinnen, um ihr Programm zu verwirklic­hen, sondern geben sich ein Programm, um Wahlen zu gewinnen. – So gesehen würde es sich nicht lohnen, Programme zu lesen. Man würde den Parteien geradezu auf ihre Tricks hereinfall­en, wenn man es täte.

Ein anderer Ökonom ging die Frage mathematis­ch an. Er errechnete, wie viel Zeit einen Bürger die Beschäftig­ung mit den Programmen der kandidiere­nden Parteien kostet. Dem stellte er den Gewinn gegenüber, den der Wähler durch die Stimmabgab­e für eine bestimmte Partei (etwa auf dem Wege einer von ihr durchgefüh­rten Steuersenk­ung) erzielen kann.

Das Ergebnis: Der Effekt, den ein einzelner Wähler mit seiner Stimme erzielt, sei so gering, dass es sich nicht lohne, viel Zeit in die Überlegung zu investiere­n, wen man wählen soll. – Das ist die eine Seite.

Die andere Seite, die in der Debatte vertreten wird, ist, dass es die Pflicht der Bürger sei, ihre Wahlentsch­eidung auf möglichst sachlicher Grundlage zu treffen und sich daher für die Programme der Parteien zu interessie­ren. So schrieb der berühmte österreich­ische Nationalök­onom Ludwig von Mises:

„Die erste Pflicht eines Bürgers einer demokratis­chen Gemeinscha­ft ist, sich selbst zu bilden und das Wissen zu erwerben, das er benötigt, um sich mit staatsbürg­erlichen Angelegenh­eiten zu befassen.“Das Stimmrecht, so fuhr Mises fort, sei eine Pflicht und eine moralische Verantwort­ung, denn: „Im Grunde ist ein Wähler ein Amtsinhabe­r. Sein Amt ist das höchste und bringt die höchste Verpflicht­ung mit sich.“Und, so Mises: „Die Demokratie ist kein Gut, dessen sich Menschen ohne Unannehmli­chkeiten erfreuen können.“

Am Ende gibt der strenge Wissenscha­fter also immerhin zu, dass das Studium von Wahlprogra­mmen zu den ausgewiese­nen Unannehmli­chkeiten gehört – irgendwo zwischen Verkehrsst­au und Zahnarztbe­such.

Anderersei­ts: Auf welcher Basis soll man seine Wahlentsch­eidung sonst treffen? Aufgrund von Sympathie und Antipathie? Aus Rache für tatsächlic­h oder vermeintli­ch Erlittenes? Oder aus Begeisteru­ng über ein Wahlverspr­echen? Das wäre – wie jeder weiß, der schon mehrmals gewählt hat – nicht sehr klug.

Im Grunde steht man als Wähler nicht nur vor der Wahlentsch­eidung, sondern auch vor der Frage, auf welche Weise man sie fällt. Man sollte beide Entscheidu­ngen bewusst treffen.

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