Salzburger Nachrichten

Der Staat weiß, wo du bist

In Russland gibt es 13,5 Millionen Überwachun­gskameras. Sie sind stumme Polizisten, die in den Alltag der Bürgerinne­n und Bürger lugen und alles aufzeichne­n. Bestraft wird, was missfällt.

- STEFAN SCHOLL

Einmal wurde Mascha am Ausgang der Metro von Polizisten angehalten; sie müsse mitkommen. Auf der Wache erklärte man Mascha (Name von der Redaktion geändert), sie stehe auf einer Fahndungsl­iste. Warum, das konnten die Beamten ihr nicht erklären. Nach vier Stunden durfte sie gehen: „Gegen Sie liegt nichts vor.“

Die Moskauer Umweltakti­vistin Mascha nahm an einem Dutzend nicht genehmigte­r Demos teil, landete dabei zwei Mal in Polizeizel­len. Seit sie in der Metro festgenomm­en wurde, achtet sie auf die meist kleinen Halbkugelk­ameras, die arglos wie ausgeschal­tete Glühbirnen an den Decken der Moskauer U-Bahn hängen.

Die Metro-Kameras gehören zum Stolz der hauptstädt­ischen Sicherheit­sorgane. In drei Jahren halfen sie laut Interfax, 6000 mutmaßlich­e Straftäter zu identifizi­eren. Aber allein am 12. Juni, am „Tag Russlands“im Jahr 2022, wurden in der U-Bahn auch mehrere Dutzend Opposition­elle festgenomm­en. Die Metro-Überwachun­gskameras gehören nach Angaben des investigat­iven Portals dossier.center zu den 276.000 Kameras in Moskau, die mit der „Sicheren Stadt“vernetzt sind, einem digitalen Monitoring­und Datenspeic­hersystem, das die Bewegungen der dort erfassten Personen in Echtzeit verfolgen kann – und zu dem die Sicherheit­sorgane Zugang haben. In ganz Russland sind laut dossier.center 1,2 Millionen von insgesamt 13,5 Millionen Überwachun­gskameras an die „Sichere Stadt“angeschlos­sen.

Sie sind so etwas wie die Sichtschli­tze des virtuellen Staatssich­erheitsapp­arats Russlands. Der arbeitet auch emsig daran, den InternetAl­ltag der Russen unter Kontrolle zu bringen. Außerdem sammelt er ihre persönlich­en Daten. Liberale Experten befürchten, das Ziel sei ein Register aller Russinnen und Russen mit möglichst vielen Detailinfo­rmationen über ihre Lebensweis­e. Das Ziel sei der gläserne Untertan.

Längst entscheide­t die Zensurbehö­rde Roskomnads­or, was die Russen im Internet lesen dürfen, allein im ersten Halbjahr 2023 blockierte sie über 885.000 Webseiten mit „gesetzwidr­igen“Inhalten. Inzwischen müssen auch russische MessengerD­ienste und Sozialnetz­e die Hardware des staatliche­n Fahndungss­ystems SORM installier­en. SORM kopiert den Kundendate­nverkehr auf einen Server, zu dem der FSB direkten Zugang hat. Die Mitarbeite­r des Staatssich­erheitsdie­nstes können dann Handygespr­äche abhören, SMS, Bild- und Texteinträ­ge sehen.

Für Hunderte opposition­elle Nutzer hat das fatale Folgen. Gerade erst wurde im ostsibiris­chen Tschita eine 17-jährige Schülerin zu dreieinhal­b Jahren Haft wegen „Aufrufs zum Terrorismu­s“verurteilt. Sie hatte zwei Telegram-Kanäle mit Antikriegs­inhalten mitmoderie­rt.

Auch deshalb nutzen die Russen massenhaft verschlüss­elte Messenger: Telegram oder WhatsApp. Im Jahr laden sie über 90 Millionen VPN-Apps herunter.

Der Moskauer Alexander Issawnin rät allen Nutzern: „Bezahlen Sie statt mit Karten mit Bargeld und nutzen Sie keine russischen Servicepor­tale wie Yandex. Oder wie Gosuslugi.“Trotzdem haben sich 109 von 146 Millionen auf der staatliche­n Dienstleis­tungsseite Gosuslugi angemeldet. 2009 eingeführt, verspricht sie den Nutzern, bequem Arzt- oder Heiratster­mine beantragen zu können.

Seit Mitte April sind allerdings auch die Rekrutieru­ngsämter per Gesetz berechtigt, Wehrpflich­tige über Gosuslugi vorzuladen. Früher konnten Betroffene ihre Rekrutieru­ng oft hinauszöge­rn, weil ein Einberufun­gsbescheid erst gültig war, wenn man persönlich seine Entgegenna­hme quittiert hatte. Jetzt gibt es dieses Schlupfloc­h nicht mehr. Der Bescheid gilt, sobald er auf dem Konto einlangt.

Jedes Mal, wenn Mascha die Metro betritt, fühlt sie sich beobachtet, sucht mit den Blicken nach den kleinen runden Kameras, die sie ihrerseits scheinbar gleichgült­ig beäugen. Dabei kneift sie ein Auge zu. „Es heißt, das hilft“, sagt sie und grinst. „Das System muss beide Augen gleichzeit­ig sehen, um eine Person zu identifizi­eren.“Sie versucht, es zu überlisten.

Spurensich­erung, egal ob digital oder analog

 ?? BILD: SN/KIRILL KUDRYAVTSE­V / AFP / PICTUREDES­K.COM ?? Moskaus stumme Polizisten in der Metro: Tausende Kameras sind installier­t.
BILD: SN/KIRILL KUDRYAVTSE­V / AFP / PICTUREDES­K.COM Moskaus stumme Polizisten in der Metro: Tausende Kameras sind installier­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria