Der Staat weiß, wo du bist
In Russland gibt es 13,5 Millionen Überwachungskameras. Sie sind stumme Polizisten, die in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger lugen und alles aufzeichnen. Bestraft wird, was missfällt.
Einmal wurde Mascha am Ausgang der Metro von Polizisten angehalten; sie müsse mitkommen. Auf der Wache erklärte man Mascha (Name von der Redaktion geändert), sie stehe auf einer Fahndungsliste. Warum, das konnten die Beamten ihr nicht erklären. Nach vier Stunden durfte sie gehen: „Gegen Sie liegt nichts vor.“
Die Moskauer Umweltaktivistin Mascha nahm an einem Dutzend nicht genehmigter Demos teil, landete dabei zwei Mal in Polizeizellen. Seit sie in der Metro festgenommen wurde, achtet sie auf die meist kleinen Halbkugelkameras, die arglos wie ausgeschaltete Glühbirnen an den Decken der Moskauer U-Bahn hängen.
Die Metro-Kameras gehören zum Stolz der hauptstädtischen Sicherheitsorgane. In drei Jahren halfen sie laut Interfax, 6000 mutmaßliche Straftäter zu identifizieren. Aber allein am 12. Juni, am „Tag Russlands“im Jahr 2022, wurden in der U-Bahn auch mehrere Dutzend Oppositionelle festgenommen. Die Metro-Überwachungskameras gehören nach Angaben des investigativen Portals dossier.center zu den 276.000 Kameras in Moskau, die mit der „Sicheren Stadt“vernetzt sind, einem digitalen Monitoringund Datenspeichersystem, das die Bewegungen der dort erfassten Personen in Echtzeit verfolgen kann – und zu dem die Sicherheitsorgane Zugang haben. In ganz Russland sind laut dossier.center 1,2 Millionen von insgesamt 13,5 Millionen Überwachungskameras an die „Sichere Stadt“angeschlossen.
Sie sind so etwas wie die Sichtschlitze des virtuellen Staatssicherheitsapparats Russlands. Der arbeitet auch emsig daran, den InternetAlltag der Russen unter Kontrolle zu bringen. Außerdem sammelt er ihre persönlichen Daten. Liberale Experten befürchten, das Ziel sei ein Register aller Russinnen und Russen mit möglichst vielen Detailinformationen über ihre Lebensweise. Das Ziel sei der gläserne Untertan.
Längst entscheidet die Zensurbehörde Roskomnadsor, was die Russen im Internet lesen dürfen, allein im ersten Halbjahr 2023 blockierte sie über 885.000 Webseiten mit „gesetzwidrigen“Inhalten. Inzwischen müssen auch russische MessengerDienste und Sozialnetze die Hardware des staatlichen Fahndungssystems SORM installieren. SORM kopiert den Kundendatenverkehr auf einen Server, zu dem der FSB direkten Zugang hat. Die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes können dann Handygespräche abhören, SMS, Bild- und Texteinträge sehen.
Für Hunderte oppositionelle Nutzer hat das fatale Folgen. Gerade erst wurde im ostsibirischen Tschita eine 17-jährige Schülerin zu dreieinhalb Jahren Haft wegen „Aufrufs zum Terrorismus“verurteilt. Sie hatte zwei Telegram-Kanäle mit Antikriegsinhalten mitmoderiert.
Auch deshalb nutzen die Russen massenhaft verschlüsselte Messenger: Telegram oder WhatsApp. Im Jahr laden sie über 90 Millionen VPN-Apps herunter.
Der Moskauer Alexander Issawnin rät allen Nutzern: „Bezahlen Sie statt mit Karten mit Bargeld und nutzen Sie keine russischen Serviceportale wie Yandex. Oder wie Gosuslugi.“Trotzdem haben sich 109 von 146 Millionen auf der staatlichen Dienstleistungsseite Gosuslugi angemeldet. 2009 eingeführt, verspricht sie den Nutzern, bequem Arzt- oder Heiratstermine beantragen zu können.
Seit Mitte April sind allerdings auch die Rekrutierungsämter per Gesetz berechtigt, Wehrpflichtige über Gosuslugi vorzuladen. Früher konnten Betroffene ihre Rekrutierung oft hinauszögern, weil ein Einberufungsbescheid erst gültig war, wenn man persönlich seine Entgegennahme quittiert hatte. Jetzt gibt es dieses Schlupfloch nicht mehr. Der Bescheid gilt, sobald er auf dem Konto einlangt.
Jedes Mal, wenn Mascha die Metro betritt, fühlt sie sich beobachtet, sucht mit den Blicken nach den kleinen runden Kameras, die sie ihrerseits scheinbar gleichgültig beäugen. Dabei kneift sie ein Auge zu. „Es heißt, das hilft“, sagt sie und grinst. „Das System muss beide Augen gleichzeitig sehen, um eine Person zu identifizieren.“Sie versucht, es zu überlisten.
Spurensicherung, egal ob digital oder analog