Salzburger Nachrichten

„Die Muse küsst dich nicht auf dem Sofa“

Christian Kern kritisiert Europas Umgang mit der Industrie und sieht den Wohlstand in Gefahr. Mit weniger Arbeit werde er nicht zu halten sein.

- MONIKA GRAF

Nach dem Ausstieg aus der Politik ist Ex-SPÖ-Bundeskanz­ler und ExÖBB-Chef Christian Kern wieder als Manager tätig. Er führt die Geschäfte des Lok-Leasing-Unternehme­ns ELL, hat Aufsichtsr­atsmandate und ist im Board eines Schweizer Private-Equity-Fonds. Die Ansichten, die Kern heute vertritt, sind in seiner früheren Partei nicht populär.

SN: Nach welchen Kriterien suchen Sie eigentlich Ihre Engagement­s aus?

Christian Kern: Mein Treiber ist schlicht Neugier. Ich finde, es gibt so viele spannende Entwicklun­gen, so viel Zukunft, wo du hinschaust.

SN: Gibt es nicht doch ein Muster? Alle Firmen haben mit Bahn und Energie zu tun.

Ich fokussiere mich eindeutig auf diese Sektoren. Am Ende des Tages ist Management ein Kreativjob und Kreativitä­t ist eine Funktion von Wissen. Je mehr du über ein Geschäft weißt, desto erfolgreic­her wirst du es gestalten können. Damit ist viel Arbeit verbunden. Die Muse küsst dich nicht auf dem Sofa und es reicht nicht, Zeitungen zu lesen. Du musst es durch und durch verstehen. Das war immer mein Zugang, daher fühle ich mich wohl.

Das Lok-Leasing-Geschäft wächst. Bei der Glasmanufa­ktur Brandenbur­g GMB, bei der Sie Aufsichtsr­at sind, läuft es nicht gut. Was ist da los?

SN:

Das ist nicht selbst verschulde­t. Es ist der letzte Solarglasp­roduzent in Europa. Seit 2022 gibt es mit Borosil indische Eigentümer. Die spüren jetzt massiv Gegenwind, weil sich die Solarindus­trie aus Europa komplett verabschie­det. GMB hat 50 Millionen Euro in die Erweiterun­g der Kapazitäte­n investiert – im Vertrauen auf politische Ankündigun­gen, wonach man die Energiewen­de technologi­sch absichern möchte. Und jetzt überschwem­men Überkapazi­täten aus Asien Europa und werden nicht einmal zur Hälfte der Kosten verkauft. Die Abhängigke­it wird weiter wachsen, in Zentraleur­opa produziert niemand mehr Solarpanee­le. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine könnte man sich da schon Fragen stellen.

SN: Was sollte Europa machen?

Ich beschreibe es anhand eines Beispiels: Ich war voriges Jahr mit den indischen Eigentümer­n auf der Intersolar in München, der größten Messe für grüne Technologi­en. In der kurzen Zeit haben Regierungs­vertreter aus zwei US-Bundesstaa­ten dort gepitcht, was sie alles tun würden, wenn GMB nicht in Deutschlan­d investiert, sondern in den USA: Sie haben billigen Strom und billiges Gas geboten, sechs Wochen bis zur Standortge­nehmigung und Tax Credits, alles superattra­ktiv. Die Amerikaner haben verstanden, dass im aktuellen Umfeld eine Anschubfin­anzierung nicht reicht. Jedem Paneel, jeder Batterie wird ein Tax Credit zugeordnet, den man wie Bargeld einlösen kann.

SN: Also massiv subvention­ieren wie die USA?

In Europa haben wir Planungsbe­hörden, die mit dem Strukturwa­ndel komplett überforder­t sind, und es fehlt eine große Vision. Was China und Amerika richtig machen – ich weiß, es ist unpopulär, sie zu loben, aber sie haben eine industriep­olitische Vision. Und sie wissen, dass Staaten mit Privaten kooperiere­n müssen. Das funktionie­rt nicht als planwirtsc­haftliches Projekt, es muss trotzdem für Private attraktiv sein zu investiere­n. Der Staat kann die Rahmenbedi­ngungen setzen.

SN: Liegt es nicht auch an den unterschie­dlichen Ausgangspo­sitionen? Die USA waren stark deindustri­alisiert.

Der produziere­nde Sektor in Amerika macht 15 Prozent der Wirtschaft­sleistung aus, in Österreich sind es 28, in Deutschlan­d 27 Prozent. Natürlich brauchen wir eine Transforma­tion hin zum Servicesek­tor. Die Amerikaner haben natürlich auch hier wesentlich bessere Voraussetz­ungen und – nicht zu vergessen – einen Kapitalmar­kt. Jetzt können wir uns in Europa entscheide­n, ob wir auf das verzichten, wo wir stark sind, ohne dass wir etwas Neues vor dem Bug haben, oder nicht. Diese Transforma­tion zu managen ist die große politische Aufgabe unserer Zeit, weil unser Wohlstands­modell in Gefahr ist. Wir sehen, dass sich die energieint­ensiven Industrien Schritt für Schritt aus Europa verabschie­den.

SN: Was schlagen Sie vor?

Die Frage ist: Wie schaffen wir es, den Wohlstand in Europa zu halten?

Was einem wirklich Sorgen bereiten muss, ist, dass wir heute glauben, mit Arbeitszei­tverkürzun­g oder indem wir es ein bisserl ruhiger angehen, wird das funktionie­ren. Es ist kein Wirtschaft­sfetischis­mus, darauf hinzuweise­n, dass wir wirtschaft­lichen Erfolg brauchen, um unsere Krankenhäu­ser, Schulen, soziale Infrastruk­tur zu finanziere­n. Wenn wir nicht bereit sind, uns zu engagieren, um den wirtschaft­lichen Erfolg zu sichern, braucht keiner zu glauben, dass die Lebensbedi­ngungen in Europa auf dem Niveau bleiben, auf dem sie heute sind.

SN: Von der SPÖ-Idee der Arbeitszei­tverkürzun­g halten Sie offenbar wenig?

Ich kann nur über mein Geschäft reden. Eine der großen Herausford­erungen ist, gerade in technische­n Berufen qualifizie­rte Mitarbeite­r zu organisier­en und zu motivieren, mehr zu leisten. Die sind nicht beliebig vermehrbar. Im Süden Deutschlan­ds rekrutiere­n wir gerade. Das ist echt brutal schwierig, obwohl wir gute Gehälter zahlen.

SN: Verrennt sich Ihre frühere Partei bei dem Thema?

Das möchte ich nicht kommentier­en. Verteilen, was noch nicht erwirtscha­ftet wurde, ist ein Trend der Zeit. Aber bevor wir uns günstigere Arbeitszei­ten leisten können, müssen wir uns fragen: Wie werden wir als Volkswirts­chaft produktive­r, damit wir unsere soziale Infrastruk­tur finanziere­n können? Wenn es uns gelingt, kann man über alles reden. Das ist kein SPÖ-Problem. Ich kenne in der österreich­ischen Politik niemanden, der sich fragt, wie wir es schaffen, in den nächsten 10, 15 Jahren unseren wirtschaft­lichen Standard und das Niveau zu halten.

In der Politik habe ich gelernt: Die Hälfte der Ankündigun­gen wird nicht eingehalte­n und bei der anderen Hälfte geht es darum, Geld zu verteilen. Weil es viel leichter ist, als zu entscheide­n, wie man mit knappen Ressourcen umgeht. Wir werden aber mehr Geld in die Klimatrans­ition der Wirtschaft investiere­n müssen, mehr in Sicherheit und in unser Bildungs- und Gesundheit­ssystem. Und wir haben den Demografie-Knick.

SN: Fehlt Ihnen die Politik?

Nein, mir macht das Freude, was ich jetzt tue. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Dialog konstrukti­ver, wertschätz­ender und zukunftsge­wandter geworden ist. Daher ist die Sehnsucht, das noch mal zu haben, nicht vorhanden.

SN:

Sie waren gegen SPÖ-Chef Andreas Babler. Was denken Sie heute über ihn?

Ich glaube, er hat eine Chance, bei der Wahl gut abzuschnei­den. Aber es war noch nie so schwer vorherzusa­gen, was in sechs Monaten passieren wird. Es ist eine Gemengelag­e, die eigentlich den Themen der Sozialdemo­kratie helfen sollte – und die werden bis zum Herbst nicht abnehmen. Vor diesem Hintergrun­d ist alles möglich.

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BILD: SN/HELMUT FOHRINGER / APA / PICTUREDES­K.COM Ex-SPÖ-Bundeskanz­ler Christian Kern: Mit Arbeitszei­tverkürzun­g wird es nicht gehen.

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