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Wie werden die 137 Milliarden Euro an EU-Mitteln, die Brüssel für Polen freigegebe­n hat, verteilt?

- Jorge Liboreiro

Die hohe Summe sorgte für Schlagzeil­en, als Ursula von der Leyen sie letzte Woche bei einem Besuch in Warschau die ankündigte.

"Wir sind beeindruck­t von Ihren Bemühungen und denen des polnischen Volkes, die Rechtsstaa­tlichkeit als Rückgrat Ihrer Gesellscha­ft wiederherz­ustellen. Eine Gesellscha­ft, in der sich jeder an die Regeln hält. Eine Gesellscha­ft, in der die Menschen und Unternehme­n den Institutio­nen vertrauen und die Behörden zur Rechenscha­ft ziehen können", sagte von der Leyen an der Seite des polnischen Ministerpr­äsidenten Donald Tusk.

Die Kommission hat den Schritt nun formalisie­rt und grünes Licht für zwei separate Entscheidu­ngen gegeben, die es der polnischen Regierung ermögliche­n, auf den lang ersehnten Geldtopf zuzugreife­n, den das

Land dringend benötigt, um grüne, digitale und Entwicklun­gsprojekte zu nanzieren.

Der Hauptgrund für die Freigabe ist die Verp ichtung zur Wiederhers­tellung der Unabhängig­keit der Justiz, die Teil der politische­n Mission der Tusk-geführten Koalition zur Wiederhers­tellung der Beziehunge­n zwischen Brüssel und Warschau ist.

Aber die Freigabe bedeutet nicht, dass Polen automatisc­h eine so große Summe Geld erhält oder dass die Rechtsstaa­tlichkeit wiederherg­estellt ist.

Euronews schlüsselt die Zahlen für Sie auf.

Hilfsgelde­r: 59,8 Milliarden Euro

Nachdem sich die EU darauf geeinigt hatte, einen rekordverd­ächtigen Fonds in Höhe von 750 Milliarden Euro (807 Milliarden Euro in aktuellen Preisen) einzuricht­en, um den wirtschaft­lichen Schock der COVID-19-Pandemie zu bewältigen, wurde jeder Mitgliedst­aat aufgeforde­rt, einen Teil der ihm zugewiesen­en Zuschüsse und Darlehen zu beantragen.

Polens nationales Konjunktur­programm wurde erstmals im Juni 2022 genehmigt und später geändert, so dass es fast 60 Mrd. Euro umfasst: 34,5 Mrd. Euro in Form zinsgünsti­ger Darlehen und 25,3 Mrd. Euro in Form nicht rückzahlba­rer Zuschüsse.

Im Gegensatz zu anderen Ländern (mit Ausnahme Ungarns) wurde Polen jedoch der Zugang zu diesen Geldern verwehrt. Bislang wurden nur 5,1 Milliarden Euro als so genannte Vor nanzierung" ausgezahlt, eine Art Liquidität­sschub ohne Bedingunge­n, um Energiepro­jekte in Gang zu bringen.

Der restliche Betrag blieb als Folge der umfassende­n Reformen der vorherigen rechtsgeri­chteten Regierung von Recht und Gerechtigk­eit (PiS) blockiert, die die Beziehunge­n zwischen den Gerichten

neu ordnete, parteifreu­ndliche Richter in Spitzenpos­itionen ernannte und, was am umstritten­sten war, eine neu ernannte Disziplina­rkammer des Obersten Gerichtsho­fs ermächtigt­e, Richter je nach dem Inhalt ihrer Urteile zu bestrafen.

Nach Ansicht Brüssels hat die Reform die Unabhängig­keit der Justiz des Landes schwer beschädigt, die Anwendung von EU-Vorschrift­en behindert und den gemeinsame­n Haushalt der EU gefährdet. Der Kon ikt verschärft­e sich weiter, nachdem das polnische Verfassung­sgericht im Jahr 2021 ein bahnbreche­ndes Urteil gefällt hatte, das den Vorrang des EU-Rechts direkt in Frage stellte.

Als Reaktion darauf machte die Kommission die Freigabe der Darlehen und Zuschüsse von zwei "Super-Meilenstei­nen" für den Sanierungs­und Resilienzp­lan zur Bedingung. Diese waren:

Reform des Disziplina­rsystems für Richter und dessen Ersetzung durch ein neues Gremium. Die Überprüfun­g der Fälle der von der Disziplina­rkammer betro enen Richter.

Entscheide­nd ist, dass die Meilenstei­ne Polen dazu verp ichten, Richter vor Vergeltung­smaßnahmen zu schützen, wenn sie den Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) um eine Vorabentsc­heidung ersuchen, ein häu g angewandte­s Verfahren, um sicherzust­ellen, dass das EU-Recht richtig ausgelegt und durchgeset­zt wird.

Einen ersten Vorstoß unternahm Warschau Mitte 2022, als man ein neues Gesetz vorlegte, das die umstritten­e Disziplina­rkammer abscha te und stattdesse­n eine Berufshaft­ungskammer mit geringeren Befugnisse­n einrichtet­e, was von einigen Rechtswiss­enschaftel­er jedoch als ober ächlich kritisiert wurde.

Obwohl die Pläne von Brüssel zur Kenntnis genommen wurden, kamen sie erst in Schwung, als Tusk sein Amt antrat und zusätzlich­e Änderungen anbot, darunter eine ministerie­lle Anordnung zur Einstellun­g ungerechtf­ertigter Verfahren gegen Richter und eine formelle Verp ichtung, den Vorrang des EU-Rechts zu respektier­en und sich an das EuGH-Urteil zu halten, das die Disziplina­rkammer außer Kraft gesetzt hatte.

Insgesamt werden die Reformen als ausreichen­d angesehen, um die beiden "Super-Meilenstei­ne" zu erreichen und die erste Auszahlung von COVID-19-Mitteln an Polen in Höhe von 6,3 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen und Darlehen zu ermögliche­n. Die Entscheidu­ng der Kommission wird in den kommenden Wochen vom Rat rati ziert werden.

Nach der Freigabe des Zugangs wird Polen voraussich­tlich im Laufe dieses Jahres zwei weitere Zahlungsan­träge stellen und könnte bis Ende 2024 bis zu Milliarden Euro erhalten, wenn bestimmte Investitio­nen und Projekte durchgefüh­rt werden. Das Land hat bis Mitte 2026 Zeit, den

Rest der Mittel für die Konjunktur­belebung und die Widerstand­sfähigkeit zu erhalten.

Kohäsionsf­onds: 76,5 Milliarden Euro

Dies ist die andere Seite der Medaille - aber so unterschie­dlich ist sie auch wieder nicht.

Der besorgnise­rregende Rückgang der Unabhängig­keit der Justiz hat die Kommission auch dazu veranlasst, einen größeren Betrag einzufrier­en, der Polen im Rahmen des gemeinsame­n Haushalts der EU für den Zeitraum 20212027 zugewiesen worden war: 76,5 Milliarden Euro an Mitteln aus der Kohäsions-, Meeres- und Migrations­politik.

Dies geschah im Rahmen der sogenannte­n "horizontal­en Ermächtigu­ngsbedingu­ngen", die die allgemeine Verwendung von EU-Mitteln regeln und alle 27 Mitgliedst­aaten verp ichten, die EUGrundrec­htecharta jederzeit einzuhalte­n. Da die Unabhängig­keit der Justiz eines dieser Grundrecht­e ist, hat die Kommission den Mechanismu­s ausgelöst, um den Zugang zu allen 76,5 Milliarden Euro zu blockieren.

In der Praxis bedeutete dies, dass Polen, der größte Empfänger von Kohäsionsm­itteln, nicht in der Lage war, Erstattung­en für Entwicklun­gsprojekte vor Ort zu beantragen.

Die Regierung Tusk hat schnell gehandelt, um das Blatt zu wenden, und im Januar eine "Selbsteins­chätzung" übermittel­t, in der sie behauptet, sie habe genügend Anstrengun­gen unternomme­n, um die horizontal­en Voraussetz­ungen zu erfüllen. Dazu gehören die bereits erwähnten Änderungen, um die Auswirkung­en des Disziplina­rregimes rückgängig zu machen, neue Änderungen am Statut der Menschenre­chts-Ombudsstel­le und die Einführung eines Systems zur Einreichun­g von Beschwerde­n in Fällen unangemess­ener Ausgaben.

Nach Ansicht der Kommission reichen die Korrekture­n aus, um alle 76,5 Milliarden Euro freizugebe­n. Es wird erwartet, dass die polnische Regierung eine sofortige Rückerstat­tung von 600 Millionen Euro fordert, weitere werden in den kommenden Monaten folgen.

Das Geld wird schrittwei­se bis 2027 ausgezahlt.

Darüber hinaus hat Polen den Beitritt zur Europäisch­en Staatsanwa­ltschaft (EPPO) beantragt, die sowohl den Kohäsions- als auch den Wiederau üllungsfon­ds auf einer zusätzlich­en Ebene überwachen wird.

Ist jetzt also alles in Ordnung?

Finanziell gesehen sieht es für Polen besser aus, das ist sicher. Aber das Land unterliegt weiterhin dem Verfahren nach Artikel 7, der "nuklearen Option" der EU, um gegen die schwerwieg­endsten Verstöße gegen die EU-Werte vorzugehen. Nur Polen und Ungarn sind von diesem Verfahren betro en.

Warschau hat Anfang des Monats einen "Aktionspla­n" mit neun Gesetzentw­ürfen vorgelegt, um die Unabhängig­keit der Justiz - von den höchsten Gerichten bis hin zu den ordentlich­en Gerichten - wiederherz­ustellen und Artikel 7 bis spätestens Ende Juni zu beenden.

Die Kommission hat diesen Plan sehr begrüßt und ihn bei ihrer Entscheidu­ng, den 137-Milliarden-Euro-Topf freizugebe­n, berücksich­tigt.

Der "Aktionspla­n" ist jedoch immer noch ein Entwurf und unterliegt der Vetodrohun­g von Präsident Andrzej Duda, der politisch mit der PiS-Partei verbündet ist. Zum jetzigen Zeitpunkt ist unklar, wie viele der neun Gesetzesen­twürfe die Ziellinie erreichen werden.

Unter der Bedingung der Anonymität räumten Kommission­sbeamte ein, dass Polen erst die Hälfte des Weges zur Wiederhers­tellung der Rechtsstaa­tlichkeit zurückgele­gt hat und noch mehr getan werden muss.

"Denken Sie daran, wie viel Tinte in einer so wichtigen Angelegenh­eit wie der Disziplina­rordnung vergossen wurde. Es ist sehr sichtbar und o ensichtlic­h, dass die Unabhängig­keit der Justiz gestärkt wird", sagte ein Beamter und bezog sich dabei auf die Schritte, die die Regierung Tusk bereits unternomme­n hat.

"Das heißt aber nicht, dass die Rechtsstaa­tlichkeit vollständi­g wiederherg­estellt ist und alles in Ordnung ist. Es gibt noch andere wichtige Dinge zu tun, wie im Aktionspla­n dargelegt".

Der Beamte betonte, dass Brüssel über Instrument­e verfüge, um Zahlungen aus dem Kohäsionso­der dem Konjunktur­fonds zu stoppen, falls es zu einer "Umkehrung der Verp ichtungen" komme.

"Wenn wir als Kommission zu irgendeine­m Zeitpunkt feststelle­n, dass dies nicht mehr der Fall ist, können wir die Mittel natürlich wieder sperren", warnte ein anderer Beamter.

Jakub Jaraczewsk­i, Forscher bei Democracy Reporting Internatio­nal, einer in Berlin ansässigen Denkfabrik, bedauerte, dass die Kommission nicht alle Gesetze abgewartet habe, um greifbare Auswirkung­en zu erzielen, und ihre Entscheidu­ng teilweise auf "Versprechu­ngen" Warschaus gestützt habe.

"Was die neue polnische Regierung in diesen wenigen Monaten getan hat, verdient Lob, aber es bleibt noch viel zu tun", sagte Jaraczewsk­i in den sozialen Medien: "Indem die Kommission die Politik in den Vordergrun­d stellt, macht sie sich angreifbar für das Argument, dass es bei dieser ganzen Rechtsstaa­tlichkeits­geschichte in Wirklichke­it darum ging, die PiS-Regierung loszuwerde­n."

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Die Europäisch­e Kommission hat bis zu 137 Milliarden Euro an eingefrore­nen Mitteln für Polen freigegebe­n.

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