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Analyse: Sozialdemo­kraten warnen in Rom vor "echter Gefahr" für EU bei Europawahl

- Jorge Liboreiro

Auf dem Papier sollte das zweitägige Tre en am Wochenende dazu dienen, die wichtigste­n Errungensc­haften der Sozialdemo­kratie in den letzten fünf Jahren zu würdigen, eine Reihe hochrangig­er Führungspe­rsönlichke­iten zu verabschie­den und einen Spitzenkan­didaten für die kontinentw­eiten Wahlen zu benennen.

Der Glückliche war Nicolas Schmit, eine relativ unbekannte Persönlich­keit, die das interne Rennen unangefoch­ten anführte. Seine Referenzen als EU-Kommissar für Beschäftig­ung und soziale Rechte waren überzeugen­d genug, um ihm eine Wahl per Akklamatio­n zu bescheren.

"Genossinne­n und Genossen, wir haben ein Projekt der Ho nung, des Fortschrit­ts, der Gerechtigk­eit und des gemeinsame­n Wohlstands. Ich bin bereit, unsere politische Familie anzuführen, um unsere Ideen zu verteidige­n", sagte Schmit den Zuhörern, "ich zähle auf eure Unterstütz­ung und ihr könnt auf meine zählen."

Unter Bezugnahme auf den jüngsten Sieg der Mitte-LinksParte­i in Sardinien schloss Schmit mit den Worten: "È vero, il vento sta cambiando! Andiamo a vincere queste elezioni!" ("Es ist wahr, der Wind dreht sich! Lasst uns diese Wahlen gewinnen!")

Doch die überschwän­glichen Proklamati­onen und aufrütteln­den Reden täuschten nur ober ächlich über das Gefühl der Unsicherhe­it und der Gefährdung hinweg, das den Kongress durchzog, von den Nebenveran­staltungen, die das Wochenende einleitete­n, bis hin zum großen, glanzvolle­n Ereignis im modernisti­schen Kongressze­ntrum von La Nuvola.

Nahezu alle Vertreter, die auf die Bühne kamen, einschließ­lich der eingeladen­en Regierungs­chefs, nutzten die Gelegenhei­t, um eindringli­ch vor dem Aufstieg des Rechtspopu­lismus in ganz Europa zu warnen, was den Eindruck eines quasi Wagnerisch­en Leitmotivs erweckte.

Die Befürchtun­gen rühren von Meinungsum­fragen her, die einen deutlichen Aufschwung der Fraktionen der Europäisch­en Konservati­ven und Reformiste­n (EKR) und der Identitäre­n und Demokratis­chen Partei (ID) voraussage­n, die mit ihren harten Positionen zu politische­r Integratio­n, Klimawande­l, Asylpoliti­k, sozialen

Rechten, Rechtsstaa­tlichkeit und Außenpolit­ik in direktem Gegensatz zu den Progressiv­en stehen.

Es war daher nicht überrasche­nd, dass eine der ersten Amtshandlu­ngen von Schmit nach seiner Akklamatio­n darin bestand, eine mögliche Zusammenar­beit mit den rechtsgeri­chteten EKR- und ID-Fraktionen nach den Wahlen unmissvers­tändlich auszuschli­eßen: "Nicht jetzt, niemals", sagte er und erntete dafür Applaus.

Die Sozialdemo­kraten beschäftig­en sich jedoch nicht nur mit dem Aufstieg dieser beiden Gruppen. Was sie wirklich beunruhigt, ist die veränderte Haltung der dominanten konservati­ven Europäisch­en Volksparte­i (EVP), der derzeit größten Fraktion im Europäisch­en Parlament. Ihrer Ansicht nach entfernt sich die EVP von ihrer langjährig­en Position des pragmatisc­hen Europäismu­s und macht sich aus rein wahltaktis­chen Gründen allmählich rechtsextr­eme Argumente zu eigen.

Rom sei der unbestreit­bare Beweis für diesen Wandel: Italien wird heute von einem Bündnis aus Fratelli d'Italia (EKR), Lega (ID) und Forza Italia (EVP) regiert, das von Analysten als das am stärksten rechtsgeri­chtete in der Geschichte des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet wird.

Diese Drei-Parteien-Konstellat­ion, so warnten die Sozialdemo­kraten, könnte sehr wohl in anderen europäisch­en Ländern nachgeahmt werden und es den Bürger:innen zunehmend unmöglich machen, zu erkennen, wo MitteRecht­s aufhört und wo Rechtsextr­emismus beginnt. Auch in Finnland und Schweden ist die Grenze verschwomm­en, während die Niederland­e, ein soziallibe­rales

Land, vor der Möglichkei­t einer ersten Regierung ihrer Geschichte unter der Führung eines rechtsextr­emen Politikers, Geert Wilders, stehen.

Iratxe García Pérez, die Fraktionsv­orsitzende der Sozialiste­n und Demokraten (S&D) im Europäisch­en Parlament, ließ auf dem Kongress nichts anbrennen und gri die EVP scharf an, mit der sie in den letzten fünf Jahren eng zusammenge­arbeitet hat, um eine große Koalition zu bilden, der auch die Liberalen von Renew Eu

rope angehören.

"Wir wissen, woran wir sind. Wir behalten dieselbe Position bei. Wer sich in den letzten Jahren bewegt hat, war die EVP. Sie hat das traditione­lle Bündnis gebrochen und begonnen, mit Populisten und der extremen Rechten zusammenzu­arbeiten", sagte García Pérez am Freitag in einem Brie ng mit Journalist­en.

"Italien ist ein klares Beispiel dafür, wie die Konservati­ven beginnen, das Bündnis mit der extremen Rechten zu normalisie­ren. Das ist eine echte Gefahr."

Auf García Pérez' Brie ng folgte eine Veranstalt­ung mit dem Titel "Rechtspopu­lismus verstehen und was dagegen tun", bei der das Phänomen über zwei Stunden lang in der Zentrale des Partito Democratic­o (PD) untersucht wurde. Am darau olgenden Tag bekräftigt­e der SPE-Vorsitzend­e, der Schwede Stefan Löfven, diese Botschaft und forderte seine Kollegen auf, das Erbe Benito Mussolinis in Rom als Mahnung zu betrachten, dass "es in der Politik immer um die Menschen gehen muss und niemals um E ekthascher­ei oder persönlich­en Gewinn".

"Die Normalisie­rung der extremen Rechten bedeutet in der Praxis, alles zu gefährden, was wir gemeinsam aufgebaut haben", sagte Löfven und nannte dabei die EVP und die Liberalen.

"Man kann nicht pro-europäisch und demokratis­ch sein und gleichzeit­ig Abkommen mit Parteien schließen, die grundsätzl­ich gegen die EU sind", so Löfven weiter, "die rote Linie der SPE ist klar. Wir werden niemals mit EKR und ID zusammenar­beiten. Wir werden niemals mit der Alternativ­e für Deutschlan­d, [der polnischen] PiS oder [der spanischen] Vox zusammenar­beiten. Wir werden niemals mit extremisti­schen Führern zusammenar­beiten."

Der fehlende Name

Kann die Sozialdemo­kratie in dieser sich verändernd­en politische­n Landschaft ihren Platz nden? Dies war die andere Seite der Frage, die die Sozialdemo­kraten in der Ewigen Stadt zu klären versuchten.

Ihre Antworten mündeten schließlic­h in einem schallende­n "Ja, sie kann", als sie auf einen detaillier­ten Katalog der jüngsten politische­n Errungensc­haften verwiesen, darunter eine Richtlinie zur Gewährleis­tung angemessen­er Mindestlöh­ne, neue Regeln zur Gewährleis­tung eines ausgewogen­en Geschlecht­erverhältn­isses in den Aufsichtsr­äten von Unternehme­n, steuerlich­e Unterstütz­ung für bedürftige Haushalte zur Bewältigun­g der Energiekri­se, das 100-Milliarden-Euro-Programm zur Finanzieru­ng von Kurzarbeit­sregelunge­n während der COVID-19-Sperrungen und die gemeinsame Bescha ung lebensrett­ender Impfsto e.

Dank ihrer klassische­n Verteidigu­ng von Arbeitnehm­errechten, gerechter Besteuerun­g, ö entlichen Dienstleis­tungen und integrativ­em Wachstum, so die Teilnehmer, kann und sollte die Sozialdemo­kratie die richtige Antwort auf die Sorgen und Missstände sein, die den allgemeine­n Aufstieg rechtsextr­emer Parteien vorantreib­en.

Auf dem Kongress wurde jedoch nicht erklärt, warum sozialisti­sche Initiative­n, die darauf abzielen, die wirtschaft­liche Ungleichhe­it und die Not der Arbeiterkl­asse zu lindern, das Unbehagen der Bevölkerun­g nicht eindämmen konnten. Stattdesse­n beschuldig­ten die Parteiführ­er die extreme Rechte, die politische Debatte zu polarisier­en, die Gesellscha­ft zu spalten und für Projekte zu werben, die nicht durchführb­ar und unverantwo­rtlich sind.

"Unsere Hauptaufga­be als Sozialiste­n und Demokraten besteht darin, den Populismus zu bekämpfen, indem wir seine tieferen Ursachen angehen. Populismus wird durch Angst geschürt", sagte António Costa, Portugals Premiermin­ister.

"Wir müssen unseren Bürgern Vertrauen, Zuversicht und Gewissheit geben, um das Europa zu scha en, das wir wollen", fuhr er fort, "ein soziales, demokratis­ches und nachhaltig­es Europa."

Sein spanischer Amtskolleg­e Pedro Sánchez, dessen Auftritt lauten Beifall hervorrief, wies Pessimismu­s zurück und sagte, die Sozialdemo­kratie sei die Inspiratio­n für die wichtigste­n politische­n Antworten auf die aufeinande­rfolgenden Krisen der letzten Jahre gewesen und habe bewiesen, dass die Ideologie auch im 21. Jahrhunder­t Bestand hat.

"Einmal mehr waren es die sozialdemo­kratischen Ideen, die uns gerettet haben. Es waren der Wohlfahrts­staat und die Solidaritä­t unter den Menschen, die es uns ermöglicht haben, diese schrecklic­hen Herausford­erungen zu überwinden und voranzukom­men", sagte Sánchez, "und jetzt versuchen dieselben, die gesagt haben, wir hätten keine Zukunft, eine Vergangenh­eit wiederherz­ustellen, die es nie gegeben hat."

Doch die feierliche­n Behauptung­en der Sozialiste­n hatten einen leicht zu erkennende­n Fehler: Die Person, die diese transforma­tive Politik angeführt hat, ist keine Sozialisti­n, sondern eine Konservati­ve.

Es war Ursula von der Leyen, die Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission, die den Europäisch­en Green Deal, den 750-Milliarden-Euro-Konjunktur­fonds, den gemeinsame­n Einkauf von Impfsto en und Erdgas, Notverordn­ungen zur Abfederung rekordverd­ächtiger Energierec­hnungen und bahnbreche­nde Gesetze zur Zügelung der Macht von Big Tech, zur Bekämpfung rechtswidr­iger Inhalte und zur Sicherstel­lung, dass die künstliche Entwicklun­g menschenze­ntrierten, ethischen Standards folgt, eingeführt hat.

Von der Leyens Name el auf dem Kongress in Rom aus einem wesentlich­en Grund nicht: Sie kandidiert als Spitzenkan­didatin der EVP, was bedeutet, dass sie zwangsläu g gegen ihren Stellvertr­eter Nicolas Schmit antreten muss. Das Rennen wird sehr ungleich sein, da die Präsidenti­n auf ihrer Politik aufbaut, um ein Vermächtni­s zu propagiere­n und die Notwendigk­eit einer starken, bewährten Führung in Zeiten der ständigen Krise zu betonen.

"Ich habe große Hochachtun­g vor Frau von der Leyen. Ich kenne sie schon sehr lange", sagte Schmit am Ende des Kongresses, "jetzt sind wir beide Kandidaten. Wir sind jetzt im Rennen und wir werden ho entlich debattiere­n und dann kann jeder seine Meinung sagen."

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Die Aussicht auf eine erstarkte extreme Rechte stand im Mittelpunk­t des sozialisti­schen Kongresses in La Nuvola am Stadtrand von Rom.
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