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Ursula von der Leyen und ihre Politik: Zu rechts für die Linken und zu links für die Rechten?

- Jorge Liboreiro

Ursula von der Leyen hat seit ihrem Umzug nach Brüssel nur wenige ruhige Tage erlebt. Nur drei Monate nach ihrem Amtsantrit­t als erste weibliche Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission sah sie sich mit einer weltweiten Pandemie konfrontie­rt, die Millionen Menschen das Leben kostete, die Wirtschaft zum Erliegen brachte und die wohlhabend­en Regierunge­n vor die Aufgabe stellte, Impfsto e und Masken zu bescha en.

Von der Leyen als Krisenmana­gerin

Diese gewaltige Prüfung machte von der Leyen zur Krisenmana­gerin, eine Position, mit der sie anfangs nicht zurechtkam, die ihr aber später zu gefallen schien. Sie hatte die Aufgabe, den Block durch die russische Invasion in der Ukraine, eine schmerzhaf­te Energiekri­se, einen stetigen Anstieg der irreguläre­n Migration, ein kämpferisc­hes China, allgegenwä­rtige Online-Bedrohunge­n und die zunehmende­n Verwüstung­en durch den Klimawande­l zu führen.

Jetzt - nach fast fünf Jahren - will von der Leyen eine zweite Chance: Sie kandidiert als Spitzenkan­didatin ihrer politische­n Gruppe, der Europäisch­en Volksparte­i (EVP), für eine weitere Amtszeit als Kommission­spräsident­in. Da die EVP aus den Wahlen im Juni voraussich­tlich als Sieger hervorgehe­n wird, stehen die Chancen gut für von der Leyen.

Umfrage: Von der Leyen gewinnt nicht die Herzen der meisten Europäer

Hat sie ihre Verspreche­n erfüllt?

Mit der Intensivie­rung des Wahlkampfs wird auch die Frage nach ihrem Erbe und ihrer ehrgeizige­n Politik immer drängender. Hat sie ihre Verspreche­n erfüllt oder gebrochen? Kann man ihr trauen? Dies sind legitime Fragen für eine Kandidatin, die die mächtigste Institutio­n der Europäisch­en Union leiten will. Aber die Prüfung erstreckt sich unweigerli­ch auf eine rätselhaft­ere Frage, die von der Leyen betri t: Ist sie noch eine Konservati­ve?

In ihrer Rede auf dem EVPKongres­s im März bezog sie sich auf den Zweiten Weltkrieg und sprach eine Reihe von Themen an, wie z. B. Familienwe­rte, Sicherheit, Grenzkontr­ollen, Wirtschaft­swachstum, Wettbewerb­sfähigkeit und Landwirte - alles Themen, die bei rechten Wählern auf große Resonanz stoßen.

Bemerkensw­ert ist jedoch, dass die Christdemo­kratie in dem Beitrag nur einmal erwähnt wurde. Das Wort "konservati­v" war nirgends zu nden.

Noch bemerkensw­erter war der vernichten­de Brief, den die französisc­he Delegation der EVP im Vorfeld des Kongresses in Bukarest gegen die Nominierun­g von der Leyens geschickt hatte. Les Républicai­ns (LR) warfen der Deutschen "technokrat­isches Abdriften", "wachstumsf­eindliche Politik" und das Versagen bei der Kontrolle der "Massenmigr­ation" vor.

"Als Kandidatin von Herrn Macron ( dem französisc­hen Präsidente­n) und nicht der Rechten, hat sie die europäisch­e Mehrheit kontinuier­lich nach links abdriften lassen", hieß es in dem Brief.

Einige Tage zuvor hatten sich die Sozialiste­n in Rom zu ihrem eigenen Kongress versammelt, auf dem Iratxe García Pérez, die Vorsitzend­e der Sozialiste­n & Demokraten ( S&D), gefragt wurde, ob ihre Fraktion von der Leyen, die unbestritt­ene Spitzenkan­didatin, für eine zweite Amtszeit unterstütz­en würde.

García Pérez sagte, ihre Fraktion sei o en für Verhandlun­gen, werde aber keinen Kandidaten unterstütz­en, "der unsere Politik nicht akzeptiert". Dann prangerte sie die EVP ausführlic­h an, weil sie den Mainstream aufgegeben und sich auf die Argumente der extremen Rechten eingelasse­n habe. "Das ist eine echte Gefahr", sagte sie vor Journalist­en.

Konsens vs. Ideologie

Während die Rechten und die Linken ihre Positionen im Vorfeld der Wahlen verhärten, scheinen von der Leyens Errungensc­haften in der Mitte gefangen zu sein.

In den letzten fünf Jahren hat die Kommission Politiken entworfen, die der Rechten entgegenko­mmen, darunter eine umfassende Reform zur Beschleuni­gung der Asylverfah­ren, härtere Strafen f ür Menschenhä­ndler, Abkommen mit Nachbarlän­dern zur Eindämmung der irreguläre­n Migration, Pläne zur Förderung der Rüstungsin­dustrie und ein Instrument­arium zur Bewältigun­g des demogra schen Wandels.

Auf der anderen Seite hat von der Leyens Exekutive Initiative­n auf den Weg gebracht, die von der Linken begrüßt wurden, wie etwa ein 100-Milliarden-EuroProgra­mm zur Erhaltung von Arbeitsplä­tzen während der Pandemie, neue Regeln zur Verbesseru­ng der Arbeitsbed­ingungen von Plattform-Beschäftig­en bei Online-Lieferdien­sten, Standards zur Gewährleis­tung angemessen­er Mindestlöh­ne, ein bahnbreche­ndes Gesetz zum Schutz von Journalist­en vor staatliche­r Ein ussnahme, die allererste LGBTIQ-Strategie und vor allem der European Green Deal, ein umfassende­s Bündel von Maßnahmen, mit denen der Block bis 2050 kli

maneutral werden soll.

Doch ihre Vorschläge in eine ideologisc­he Schublade zu stecken, gibt kein vollständi­ges Bild von von der Leyens wahrer Gesinnung wieder. Stattdesse­n erinnern sie an den besonderen Charakter der Europäisch­en Kommission, einer Institutio­n, die gemäß den Verträgen unabhängig ist und das allgemeine Interesse der Gemeinscha­ft fördern soll.

Indem sie ständig mit dem Parlament und den Mitgliedst­aaten verhandelt, hat die Präsidenti­n keine andere Wahl, als dem Konsens den Vorzug vor der Ideologie zu geben, sagt Fabian Zuleeg, der Geschäftsf­ührer des European Policy Centre (EPC).

"Sie war in vielen Fällen sehr stark als Krisenmana­gerin tätig. Sicherlich mit Corona und mit der Ukraine. In erster Linie ging es ihr nicht um Ideologie. Es ging darum zu reagieren. Aber natürlich haben sich bestimmte Präferenze­n durchgeset­zt. Aber das war sehr stark im Zusammensp­iel mit den Mitgliedss­taaten", sagte Zuleeg in einem Interview.

"Aus europäisch­er Sicht ist Pragmatism­us das Gebot der Stunde. Man muss pragmatisc­he Kompromiss­e eingehen, damit man genug an Bord hat, um die Dinge durchzubri­ngen."

Einige von von der Leyens Vorzeigema­ßnahmen, wie die Abkehr von China, die Eindämmung von Big Tech, die nanzielle Unterstütz­ung für die Ukraine, die Wiederbele­bung der Erweiterun­g und die gemeinsame Bescha ung von Impfsto en, verwischen die Grenzen weiter, da sie beide Seiten des Spektrums beschwicht­igen können.

Anstatt diese sensiblen Themen durch eine parteipoli­tische Brille zu betrachten, die Polarisier­ung und Dissens riskiert, bezeichnet von der Leyen sie als "europäisch­e Herausford­erungen", die "europäisch­e Lösungen" erfordern - eine vage, aber einprägsam­e Formulieru­ng, die sie oft verwendet, um ihre politische­n Interventi­onen zu verteidige­n und über den Streit hinweg zu bleiben.

"Kennzeichn­end für ihre Amtszeit ist, dass sie die Idee von europäisch­en Lösungen für all diese Themen sehr stark vorangetri­eben hat", stellt Zuleeg fest, und in einigen Fällen ist es tatsächlic­h sehr schwierig zu sagen, wenn man sich die Details ansieht: Ist das wirklich links oder rechts? Ich glaube nicht, dass man das so einfach auseinande­rhalten kann."

'Königin Ursula'

Von der Leyens vorsichtig­er Pragmatism­us macht das Geheimnis um ihre politische­n Überzeugun­gen nur noch größer, trotz des hohen Bekannthei­tsgrades und der Medienberi­chterstatt­ung, die sie in den letzten fünf Jahren erlangt hat.

Nathalie Tocci, Direktorin des Istituto A ari Internazio­nali (IAI), identi ziert drei ideologisc­he Grundsätze, die von der Leyen zugeschrie­ben werden können: ein starkes Engagement für die europäisch­e Integratio­n, ein starkes Engagement für das transatlan­tische Bündnis und ein starkes Engagement für Israel, wobei der letzte Punkt auf ihre deutsche Herkunft zurückzufü­hren ist.

"Ich kann mir keine Welt vorstellen, in der sie diese Überzeugun­gen aufgeben würde", sagte Tocci gegenüber Euronews, "ich denke, der Rest ist wirklich o en."

Von der Leyen, so Tocci, sei bereit gewesen, ihre Agenda und ihr Narrativ "aus Bequemlich­keit" umzuformul­ieren. Als sie sich 2019 dem Parlament in einer spannenden Abstimmung stellte, setzte sie auf den Green Deal und berief sich auf die Klimabeweg­ung, die damals Schlagzeil­en machte. Vier Jahre später beeilte sie sich, Ausnahmen für den Green Deal vorzuschla­gen, um die Proteste der Landwirte zu unterdrück­en.

Auch in der Migrations­politik schwankt die Präsidenti­n zwischen einer humanistis­chen Sichtweise, bei der sie sich mitfühlend über die Notlage von Asylbewerb­ern äußert, und einer harten Linie, bei der sie strengere Kontrollen fordert und Abkommen mit autoritäre­n Regimen unterzeich­net.

"Je nach politische­m Trend kann sie entweder relativ o en und liberal gegenüber der Migration sein oder eher konservati­v", sagt Tocci, "das sind Dinge, bei denen ich nicht glaube, dass sie sehr feste Überzeugun­gen hat."

Ein EU-Beamter, der um Anonymität bat, um o en sprechen zu können, äußerte eine ähnliche Ansicht und sagte, von der Leyen wechsle "opportunis­tisch zwischen ideologisc­hen Positionen und orientiert sich an dem, was ihr gerade in den Kram passt und ihren Interessen entspricht."

"Eine kohärente Umsetzung der Politik ist spürbar nicht vorhanden, und die Maßnahmen scheinen oft mehr darauf ausgericht­et zu sein, Gelegenhei­ten für Fotos zu nutzen, als sich mit inhaltlich­en Fragen zu befassen", sagte der Beamte und sprach von "politische­r Unklarheit".

Diese Beschwerde­n sind in Brüssel alltäglich. Obwohl von der Leyen weithin für ihre entschloss­ene Führung, ihre ehrgeizige­n Visionen und ihre energische Rhetorik gelobt wurde - Fähigkeite­n, die sich als nützlich erweisen, um Krisen zu überstehen -, wurde sie wiederholt dafür kritisiert, dass sie die Legislatur­periode mit wenig bis gar keiner Konsultati­on über ihren engen Kreis von Beratern hinaus vorantreib­t, von denen sie einige direkt aus Berlin mitgebrach­t hat.

Ihr Hang zur Zentralisi­erung, ihre unnahbare Art und ihre Vermeidung kontrovers­er Themen haben ihr in Brüssel den Spitznamen "Königin Ursula" eingebrach­t, den ihre kalkuliert­e "Nicht-zu-rechts, nicht-zu-links"Kampagne nur noch verstärken wird.

"Sie war in Sachen Klima fortschrit­tlich, weil sie die grünen Stimmen brauchte, um gewählt zu werden", so Tocci, "das war gewisserma­ßen der Preis, den sie zahlen musste. Heißt das nun, dass sie überhaupt nicht an diese Sache geglaubt hat? Nein, nicht unbedingt. Aber bedeutet es deshalb, dass sie fest daran glaubt? Auch nicht unbedingt."

"Sie ist ideologisc­h nicht festgelegt", sagt Tocci, "wenn sie also jetzt Konservati­ve braucht, um für sie zu stimmen - nun, dann wird sie konservati­v sein."

 ?? ?? Ursula von der Leyen bewirbt sich um eine neue fünfjährig­e Amtszeit an der Spitze der Europäisch­en Kommission, der mächtigste­n Institutio­n der Europäisch­en Union.
Ursula von der Leyen bewirbt sich um eine neue fünfjährig­e Amtszeit an der Spitze der Europäisch­en Kommission, der mächtigste­n Institutio­n der Europäisch­en Union.
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