Eine verheerende Bilanz bei der COP 22 in Marrakesch:
In den vergangenen 20 Jahren haben extreme Wettererei gnisse wie Stürme, Hitzewellen und Überschw emmungen weltweit mehr als 528.000 Menschen getötet und Sachschäden in Höhe von 2780 Milliarden Euro (3100 Milliarden US-Dollar) angerichtet.
Vergleiche anstellt, wird er feststellen, dass sich das Leben homogenisiert hat. Viele Lebensformen treten jetzt global auf, die früher nur regional vorkamen, unsere Nutzpflanzen zum Beispiel oder unsere Nutztiere. 90 Prozent der Säugetier-Biomasse auf der Erde bestehen inzwischen aus dem Menschen und seinen Nutztieren. Der Geologe wird auf elementares Aluminium stoßen, das es in vorindu strieller Zeit überhaupt nicht gab, vor allem aber auf sehr viel Beton. Die Römer haben ihn einst erfunden, aber erst im Zweiten Weltkrieg wurde er zum meistbenutzten Baustoff. Die Hälfte des jemals produzierten Betons ist allein in den vergangenen 20 Jahren verbaut worden.
6. SPIEGEL: Der Mensch hat doch auch in früheren Zeiten bereits Spuren in der Erde hinterlassen, ohne deswegen gleich neue geologische Epochen zu begründen. Was ist jetzt anders? Leinfelder: Der Mensch ist wie jedes Lebewesen ein biologischer Faktor. Wir nehmen was auf, wir scheiden was aus, wir verändern unsere Umwelt. Jetzt sind wir aber von einem biologischen Faktor zu einem geologischen Faktor geworden, der global wirkt. Das ist der Unterschied. Wir haben Umweltver änderungen ausgelöst, die schneller ablaufen als alles, was wir als Geologen kennen. Der Meeresspiegel steigt, die Temperaturen steigen, Arten sterben in hohem Tempo aus.
7. SPIEGEL: Der Begriff „Anthropozän” hat einen misanth ropischen Beigeschmack, als ob der Mensch an sich Schuld an der Misere habe.
Liegt es nicht vielmehr an unserer wachst umsfixierten Wirtscha ftsweise? Leinfelder: Mit Schuldzu weisungen kommen wir nicht weiter. Seit einem Vierteljah rhundert weiß die Welt, was mit dem Klima geschieht. Seither gibt es eine Verantwortung der gesamten Menschheit. Für mich klingt der Begriff auch nicht misanthropisch. Übersetzt heißt Anthropozän: „das menschlich Neue“oder „das menschengemacht Neue“. Das passt doch ganz gut.
8. SPIEGEL: Warum beginnt das Anthropozän ausgerechnet um 1950? Leinfelder: Wir haben viele der historischen Alternativen geprüft, die als Zäsur gelten könnten – den Bau der ersten Städte, die Koloniali sierung Amerikas, die Erfindung der Dampfmaschine oder den Beginn der Industria lisierung. Aber erst ab Mitte des vorigen Jahrhunderts finden wir in den Sedimenten die Schlüsse lmaterialien der neuen Zeit, Plastik zum Beispiel. Vorher kaum verbreitet, kam es im Zweiten Weltkrieg in Gestalt von Feldgeschirr daher, später als Nylonstrumpf und Hula-Hoop-Reifen. Heute produzieren wir pro Jahr eine Kunststoffmenge, die der Biomasse aller lebenden Menschen entspricht. Ein Großteil davon landet irgendwann in den Sedimenten, ob im Hochgebirge oder in der Tiefsee.
9. SPIEGEL: Was würde sich ändern, wenn das neue Zeitalter offiziell verkündet wird? Leinfelder: Das Anthropozän muss mehr sein als nur das mahnende Aufsummieren aller bösen Veränderungen, die wir der Welt angetan haben. Der Anthropozän-Gedanke lautet: Alles hängt mit allem zusammen. Er birgt die Chance, dass wir einen neuen Zugang zu dieser Welt finden. Unser Schicksal im Anthropozän liegt, wie der Name schon sagt, in unserer Hand. Wenn wir es richtig anstellen, wird das Anthropozän lange existieren, vielleicht sogar viel länger als das Holozän. Machen wir es hingegen falsch, dann rutschen wir in eine Treibhauszeit hinein. Viel Zeit haben wir nicht mehr, aber ein wenig schon noch.
10. SPIEGEL: Was wäre die wichtigste Aufgabe, um das Anthropozän in unserem Sinne zu steuern? Leinfelder: Wir werden nicht den einen Knopf finden, den wir drücken müssen, und alles wird gut. Wir müssen vieles neu denken. Für einige Probleme könnte es technische Lösungen geben. So könnte die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid zumindest eine Weile lang in einem gewissen Umfang eine Rolle spielen. Noch besser wäre es, wenn wir den Kohlenstoff gleich in neue relevante Produkte verwandeln könnten. Im Anthropozän, wie ich es verstehe, steckt ja auch die Vision, dass wir als Menschen die Erde besser behandeln können. Wir brauchen neue wissens chaftliche Ansätze, mehr Kreislau fwirtschaft, wir müssen experimentieren und mutig sein.