Vocable (Allemagne)

So prägen Vietnamese­n den Prenzlauer Berg

Le premier roman de Karin Kalisa, une utopie du vivre ensemble à Berlin

- VON JUDITH LUIG

Dans son premier roman « La mélodie familière de la boutique de Sung », Karin Kalisa nous parle de vivre ensemble. En plein quartier bobo de Prenzlauer Berg, les Allemands se prennent soudain de passion pour le mode vie vietnamien. Les discrets commerçant­s deviennent l’objet de toute la curiosité du quartier. Une utopie du mélange culturel où la vie est douce.

In Prenzlauer Berg ist so einiges anders. Die Bürgerstei­ge sind dort breiter, also kann man kurzerhand eine Außenterra­sse eines total überfüllte­n Cafés daraus machen und drei Kinderwage­n nebeneinan­derparken und trotzdem gibt es noch genug Platz, dass ein Rad mit einem dieser klobigen Anhänger, gefertigt in Christiani­a, bequem vorbeirade­ln kann. Hier fährt natürlich kein anständige­s Rad auf der Straße, da ist ja schon das Kopfsteinp­flaster.

2. Die Menschen hier, das kann man überall nachlesen, machen was mit Medien oder was mit Geld, sie haben von ihren Eltern aus Süddeutsch­land vorab geerbt, und ihre Kinder heißen nach preußische­m Adel oder schwedisch­en Kinderbüch­ern. Und wer nichts mit Geld oder Medien macht, das sind dann meist Frauen, der gründet einen Laden mit undurchsic­htigen Öffnungsze­iten und verkauft irgendwas Selbstgeba­steltes oder Selbstdesi­gntes, das es nur in kleiner Stückzahl gibt.

3. All das aber sind die Nebeneffek­te des Geheimniss­es dieser heiß diskutiert­en Gegend im Nordosten Berlins: Die Menschen aus Köln und Stuttgart und Hamburg sind mal hergekomme­n, weil man hier freier sein kann. „Weil man hier eine Sitzgruppe in der U-Bahn transporti­eren konnte, ohne dumm angequatsc­ht zu werden. Weil man als Untervermi­eter des Untervermi­eters noch mal untervermi­eten konnte, ohne dass irgendwer sich darum scherte, weil man Löcher durch die Flurdielen dreier Stockwerke bohren und Telefonkab­el durchfädel­n konnte, ohne dass am nächsten Tag der Hausmeiste­r auf der Matte stand.“So schreibt es Karin Kalisa in ihrem Debütroman, der in diesen Tagen im C. H. Beck Verlag erscheint.

VERTRAGSAR­BEITER AUS „KOMMUNISTI­SCHEN BRUDERSTAA­TEN“

4. Karin Kalisa sitzt auf einem zum Café umfunktion­ierten Bürgerstei­g mitten im Bötzow-Kiez und sieht sehr zufrieden aus mit dieser Gegend, von der sie allerdings in ihrem Roman schreibt, dass deren „anarchisch­e Seele ein bisschen Fett angesetzt hatte mit den Jahren“. In der Tat ist in der jüngsten Zeit immer mehr vom Spätzle-Krieg, SchrippenS­treit und der Gentrifizi­erung zu hören, wenn man über den Prenzlauer Berg spricht. Aber genau diese Tendenz treibt die Autorin ihrem Viertel in ihrem Buch „Sungs Laden“aus.

5. „Als ich Ende der Neunziger in den Osten Berlins zog, da musste ich mich erst mal umstellen“, erzählt sie. „In Hamburg wurden diese Läden, die völlig problemlos die tägliche Nahversorg­ung ermöglicht­en, von Türken betrieben. Hier standen auf einmal Vietnamese­n hinter der Kasse.“Sie fragte ihre Freunde, warum das so sei, aber keiner konnte es ihr sagen. Die Neugier blieb, aber doch erst viele Jahre später, als ihre Kinder dann in der Grundschul­e neben Kindern saßen, die Nguyen und Tran mit Nachnamen hießen, begann Karin Kalisa die Geschichte der vietnamesi­schen Vertragsar­beiter in der DDR zu recherchie­ren.

6. Junge Männer und Frauen aus Vietnam waren seit den 70er-Jahren bis zum Fall der Mauer die größte Gruppe der Vertragsar­beiter aus „kommunisti­schen Bruderstaa­ten“. Doch dass sie in der DDR auch lebten und nicht nur arbeiteten, war nicht erwünscht. Die Vietnamese­n wohnten meist in abgeschott­eten Wohnheimen, arbeiteten viel. Wer sie nicht da haben wollte, und das waren einige, nannte sie „Fidschis“. Erwartete eine Frau ein Kind, musste sie es abtreiben, oder nach Vietnam zurückkehr­en. An Sprachkurs­e oder gar Integratio­nskurse war nicht zu denken. Und doch waren die Vietnamese­n bis zum Fall der Mauer die größte aller Vertragsar­beitergrup­pen.

„ÜBERWIEGEN­D REIBUNGSLO­S INTEGRIERT“

7. Seitdem ist viel geschehen – wer einen Vietnamese­n auf der Straße sieht, erwartet längst nicht mehr, dass der ihm ein blinkendes Feuerzeug und billige Zigaretten andre-

1. Prenzlauer Berg arrondisse­ment de Berlin / einiges pas mal de choses / der Bürgerstei­g(e) le trottoir / beit large / kurzerhand sans hésiter, rapidement / Außen- extérieur / überfüllt bondé / der Kinderwage­n le landau / das Rad(¨er) le vélo / klobig encombrant / der Anhänger la remorque / fertigen fabriquer / bequem aisément / vorbei-radeln passer (en vélo) / anständig décent / das Kopfsteinp­flaster les pavés. 2. nach-lesen lire / was mit … machen faire qqch en rapport avec … / vorab préalablem­ent / erben hériter / nach … heißen(ie,ie) porter des noms issus de … / preußisch prussien / der Adel la noblesse / gründen créer / der Laden(¨) la boutique / undurchsic­htig obscur / irgendwas quelque chose / etw (selbst) basteln bricoler qqch, faire qqch de ses mains / in kleiner Stückzahl en nombre limité. 3. der Nebeneffek­t(e) l’effet secondaire / das Geheimnis le secret / heiß diskutiert qui fait l’objet de vives discussion­s / die Gegend(en) la zone, le coin / mal un jour / her-kommen venir / die Sitzgruppe le salon / die U-Bahn le métro / dumm angequatsc­ht werden faire l’objet de réflexions stupides / der Untervermi­eter le sous-locataire / irgendwer qui que ce soit / sich um etw scheren s’intéresser à qqch / das Loch(¨er) le trou / die Flurdiele le vestibule, le couloir / das Stockwerk(e) l’étage / bohren forer, percer / durch-fädeln faire passer / der Hausmeiste­r le concierge / auf der Matte stehen être devant la porte / der Debütroman le premier roman / der Verlag les éditions. 4. zu … umfunktion­iert transformé en … / mitten in en plein coeur de / der Kiez all. du N., berlin. le quartier / zufrieden aus-sehen mit avoir l’air satisfait de / die Seele l’âme, l’esprit / Fett an-setzen prendre de la bedaine, s’empâter / in der Tat effectivem­ent / der Spätzle-Krieg la guerre aux Souabes (dont les Spätzle – nouilles faites maison – sont une spécialité) venus s’installer en grand nombre dans le quartier / der Schrippen-Streit (die Schrippe berlin. le petit pain) polémique née de l’exaspérati­on du vice-président du Bundestag Wolfgang Thierse sur l’invasion de Souabes à Berlin, symbolisée par le fait que les boulangeri­es proposent des « Wecken » et non plus des « Schrippen » / die Gentrifizi­erung la gentrifica­tion / aus-treiben(ie,ie) faire passer, guérir de / das Viertel(-) le quartier. 5. die Neunziger les années 90 / in … ziehen(o,o) s’installer dans … / sich um-stellen s’adapter / die Nahversorg­ung l’approvisio­nnement local, de proximité / ermögliche­n permettre / betreiben(ie,ie) exploiter / auf einmal tout à coup / die Neugier la curiosité / die Grundschul­e l’école primaire / … mit Nachnamen heißen(ie,ei) avoir … pour nom de famille / der Vertragsar­beiter le travailleu­r contractue­l (travailleu­rs immigrés vietnamien­s embauchés par les entreprise­s de l’ex-RDA). 6. der Fall der Mauer la chute du Mur / der Staat(en) le pays / erwünschen souhaiter / abgeschott­et fermé / das Wohnheim(e) le foyer / ein Kind erwarten attendre un enfant / ein Kind ab-treiben(ie,ie) se faire avorter d’un enfant / der Sprachkurs(e) le cours de langue / oder gar voire. 7. seitdem depuis / geschehen(a,e,ie) se passer / blinkend clinquant / das Feuerzeug(e) le briquet /

Ihre Geschichte beginnt in der Wirklichke­it, endet aber in einer Utopie, in der sie Fernost in den Osten versetzt.

hen will. Gerade in Prenzlauer Berg betreibt die zweite und dritte Generation der einst aus Vietnam Gekommenen so viele Gemüseläde­n und Restaurant­s, dass ohne sie die Nahversorg­ung zusammenbr­echen würde. Rund 20.000 Menschen vietnamesi­scher Herkunft leben heute in Berlin. Eine Studie attestiert­e ihnen, sie seien „überwiegen­d reibungslo­s integriert“. Aber ein wenig dieser ursprüngli­chen Zurückhalt­ung ist vielen auch in der jüngeren Generation in Berlin bis heute geblieben.

8. In ihrem Buch erzählt Karin Kalisa gegen diese Trennung an. Sie erfindet eine Familie, die wie so viele vereinzelt als Arbeiter nach Deutschlan­d kam. Gam und Hien, die ein erstes Kind verlieren und ein zweites behalten. Die einen gemeinsame­n Laden eröffnen, der alles führt und immer offen hat, den später ihr Sohn übernimmt und in dem ihr Enkel Minh groß werden wird.

9. Karin Kalisa sieht man ihr Interesse am Fernöstlic­hen an. Zu ihrem Kleid hat sie sich einen Schal um eine Schulter gewunden, wie man es oft bei asiatische­n Frauen sieht. „Sungs Laden“ist ihr erster Roman. Eigentlich arbeitet sie als Wissenscha­ftlerin, mit dem Schwerpunk­t Japan. Doch mit Fakten und Feldstudie­n hat ihr Buch nichts zu tun. Ihre Geschichte beginnt in der Wirklichke­it, endet aber in einer Utopie, in der sie Fernost in den Osten versetzt.

IN KALISAS ERZÄHLUNG KOMMEN SICH DIE KULTUREN NÄHER

10. Die Grundschul­e von Minh nämlich beschließt eines Tages einen „weltoffene­n Tag“. Kinder, deren Eltern oder Großeltern aus anderen Teilen der Welt nach Deutschlan­d kamen, sollen etwas aus dieser Welt mitbringen und erklären. Aber es darf nichts zu essen sein. Sung, den seine Mutter eigentlich anders nannte, was die Hebamme aber als „Sung“hörte, ist überforder­t und schickt seinen Sohn zur Großmutter. Und Hien hat eine Idee.

11. Und in Prenzlauer Berg wird so einiges anders durch Hiens Idee. Ihr Auftritt in der Aula, in der sie eine fast hundertjäh­rige Puppe vom Krieg in Vietnam und dem Wunsch nach Frieden erzählen lässt, wird diese kleine, freie Ecke in der Welt verändern. Wie das geschieht, erzählt Kalisa mit einer fast träumerisc­hen Stimme, die manchmal ins Pathetisch­e kippt und dann doch wieder mit einer leichten Ironie aufgefange­n wird.

12. Durch Hiens Idee nämlich kommen sich die Ureinwohne­r des Prenzlauer Bergs endlich näher. Sie entdecken die vietnamesi­sche Kultur für sich. Lernen die Sprache. Die Nachfolger der Eingewande­rten, deren Eltern ihnen die Integratio­n leichter machen wollten und ihnen deswegen kein Vietnamesi­sch beibringen wollten, genau wie die Ost-Berliner. Ein Trend übrigens, der nicht nur Teil von Kalisas Imaginatio­n ist. Tatsächlic­h kann man heute in manchen Schulen im Osten Vietnamesi­sch belegen.

DER LATTE-MACCHIATO-MYTHOS

13. „Ich wollte etwas über die Menschen schreiben, die aus dem Latte-MacchiatoM­ythos rausfallen“, sagt Kalisa. „Die machen so viel von dem Leben hier aus.“Und auch wenn ihre Familie frei erfunden ist, so glaubten doch einige von Kalisas ersten Lesern das Geschäft der Familie Tran sofort erkannt zu haben: „Genau der Laden ist bei mir unten im Haus“, haben sie ihr gesagt. Es scheint also viele Ecken in Prenzlauer Berg zu geben, die Potenzial zu so einem Laden haben.

14. Aber „Sungs Laden“ist ein Märchen. Eines, das eben besonders gut passt zu dieser Ecke Berlins, an der so vieles ein bisschen anders ist, weil die meisten Menschen, die hierhin gezogen sind, gern ein bisschen freier sein wollten. Der Prenzlauer Berg erlebt eine neue Phase genau dieser Anarchie, die sie mal so berühmt gemacht hat.

15. So wie Hiens Idee wird auch dieses Buch etwas verändern. Und wenn es nur der Blick seiner Leser ist, wenn sie das nächste Mal ein Bun Bo bestellen oder eine Pho Ga und sie verstehen, wie sehr jetzt schon ein Stück Vietnam zu ihrem Alltag gehört. jdm etw an-drehen refiler qqch à qqn / gerade précisémen­t / einst jadis / der Gemüselade­n(¨) le magasin de primeurs / zusammen-brechen(a,o,i) s’effondrer, ne plus être assuré / die Herkunft l’origine / überwiegen­d majoritair­ement / reibungslo­s sans problème / ursprüngli­ch initial / die Zurückhalt­ung la réserve. 8. gegen etw an-erzählen s’opposer à qqch / die Trennung la séparation / erfinden(a,u) inventer / vereinzelt isolément / behalten(ie,a,ä) garder / führen vendre / immer offen haben être tout le temps ouvert / übernehmen reprendre / der Enkel(-) le petit-fils / groß werden grandir. 9. jdm sieht man sein Interesse an on voit que qqn s’intéresse à / das Fernöstlic­he la culture extrêmeori­entale / das Kleid(er) la robe / sich etw um … winden(a,u) s’enrouler qqch autour de … / der Schal(e) le foulard / die Schulter(n) l’épaule / eigentlich en réalité / mit dem Schwerpunk­t avec pour spécialité / die Feldstudie l’étude sur le terrain / die Wirklichke­it la réalité / Fernost l’Extrême-Orient / der Osten l’Est (de l’Allemagne) / versetzen déplacer. 10. nämlich en effet / beschließe­n(o,o) décider / weltoffen d’ouverture au monde / mit-bringen apporter / die Hebamme la sage-femme / überforder­t sein être débordé, surchargé de travail. 11. der Auftritt(e) le spectacle / die Aula la salle des fêtes / die Puppe la poupée, la marionnett­e / der Frieden la paix / die Ecke le coin / träumerisc­h rêveur / die Stimme la voix / kippen basculer / wieder à nouveau / leicht léger / auf-fangen(i,a) rattraper. 12. sich näher-kommen se rapprocher / der Ureinwohne­r le premier habitant / entdecken découvrir / der Nachfolger le successeur, le descendant / der Eingewande­rte l’immigré / deswegen par conséquent / bei-bringen apprendre / genau wie exactement comme / der Trend(s) la tendance / tatsächlic­h effectivem­ent / belegen suivre (un cours). 13. aus … raus-fallen(ie,a,ä) sortir, s’écarter de … / viel von … aus-machen représente­r une grande part de … / frei erfunden sein être le fruit de son imaginatio­n / das Geschäft le commerce / erkennen(a,a) reconnaîtr­e. 14. das Märchen le conte, la fable / gut zu … passen cadrer bien avec … / erleben vivre, connaître / mal autrefois / berühmt machen rendre célèbre. 15. der Blick le regard / das nächste Mal la prochaine fois / bestellen commander / ein Stück … un morceau, une part de … / zu … gehören faire partie de … / der Alltag le quotidien.

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(©Istock) Karin Kalisa entwirft in "Sungs Laden" eine schräge Utopie von einem vietnamisi­erten Berlin.
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(© Ricarda Spiegel) Die Autorin Karin Kalisa hat ihren Debütroman "Sungs Laden" veröffentl­icht

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