Im Westen hat das Antlitz eine andere Bedeutung als im Orient
En Occident, le visage a une autre signification qu’en Orient Le port de la burka est considéré en Occident comme une rupture culturelle, c’est la raison de son interdiction dans plusieurs pays d’Europe. A l’occasion de la sortie de son livre “Faces. Une
Le masque tombe : le visage à travers les cultures et les époques
FAZ: Herr Belting, Sie haben sich intensiv mit der Rolle des Gesichts in unserer Kultur befasst. Inwiefern berührt die Debatte um die Vollverschleierung der muslimischen Frau einen Kernbereich unserer Zivilisation? Hans Belting: Das Gesicht ist Ausdrucksträger und als solcher auch Zeichenträger der Person in der europäischen Kultur. Wir haben in unserem Kulturkreis keinen Schleier vor dem Gesicht, aber die Maske als Gegensatz des offenen Gesichts. Deswegen bewerten wir den Schleier 1. sich mit etw befassen s’intéresser à, étudier qqch / inwiefern dans quelle mesure / berühren toucher / die Vollverscheierung le voile intégral / muslimisch musulman / der Kernbereich le domaine essentiel, la pierre angulaire / der Ausdrucksträger le support, le vecteur d’expressions / als solcher en tant que tel / der Zeichenträger le support de symboles / der Kulturkreis la civilisation, la sphère culturelle / der Schleier le voile / deswegen par conséquent / als … bewerten évaluer, considérer comme … / als Maske und nicht als Diskretion. Die Maske entstammt der Welt des antiken Theaters und hat in der Moderne ihre Bedeutung als Zeichenträger an das Gesicht abgegeben. Das echte Gesicht steht in unserer Kultur für den Ausdruck der Wahrhaftigkeit, aber auch der Gefährdung. Man kann sein Gesicht verlieren.
2. FAZ: Wie entwickelte sich die europäische Geschichte des Gesichts nach der Antike? Belting: In der christlichen Religion verbindet sich das Gesicht mit der theologischen Frage nach dem einer Sache entstammen être issu, provenir de qqch / die Moderne l’époque moderne / die Bedeutung la signification, l’importance / ab-geben céder / der Ausdruck l’expression / die Wahrhaftigkeit la vérité / die Gefährdung la menace / sein Gesicht verlieren(o,o) perdre la face. 2. sich entwickeln évoluer / die Antike l’Antiquité / christlich chrétien / sich mit … verbinden(a,u) être associé à … / wahren Gesicht Christi. Die Geschichte der Ikone beginnt mit der Debatte um die Doppelnatur Jesu. Welches Gesicht zeigt er? Im Theater der Renaissance wird die antike Maske nicht mehr eingeführt, sondern das Gesicht übernimmt ihren Rollencharakter. Im 18. Jahrhundert schließlich wird das höfische Gesicht zum Stein des Anstoßes.
3. FAZ: Das stark geschminkte, zur Maske erstarrte Gesicht? Belting: Ja. „Persona“ist bekanntlich der lateinische Begriff für Maske, bevor er die Person kennzeichnet. Das Rollengesicht wird im Zeitalter der Aufklärung zum
Doppel- double / ein-führen introduire / übernehmen reprendre / höfisch courtois / der Stein des Anstoßes la pierre d’achoppement, le sujet de discorde. 3. schminken maquiller / zu … erstarrt figé en … / bekanntlich c’est connu / der Begriff(e) le terme / kennzeichnen caractériser, désigner / das Rollengesicht le visage qui affiche un rôle / das Zeitalter l’époque / die Aufklärung les Lumières /
Ziel der Angriffe. Rousseau will das höfische Maskengesicht herunterreißen. Es war eine Forderung nach Wahrheit.
4. FAZ: Gesicht zu zeigen verbindet sich mit politischer und gesellschaftlicher Partizipation und Repräsentation. Belting: Dabei handelt es sich um eine Paradoxie. Das öffentliche Ich, im Englischen Persona, stellt sich mit dem Gesicht dar und entzieht sich dem Blicktausch. Deswegen verlangt man heute von den Medien so gerne, dass sie hinter dem öffentlichen Gesicht das echte Gesicht einfangen.
5. FAZ: Wie sind die Sichtbarkeit des Gesichts und der Stellenwert des Individuums in der Kunst- und Kulturgeschichte miteinander verbunden? Belting: In der Renaissance wird das Porträt die wichtigste Bildgattung für die Repräsentation einer Person. Im europäischen Tafelbild macht das Porträt das Selbst zum Thema. So wird das Porträt mit seiner gesellschaftlich kodierten Sichtbarkeit zum Träger des Individualisierungsprozesses.
6. FAZ: Die Maske im europäischen Kulturkreis hat ihren Ort im Kult, im Theater und im Karneval, in zeitlich begrenzten Spektakeln, in denen Rollenwechsel einer sozialen Übereinkunft folgen. Belting: Das wiederum führt zu der Vorstellung, dass die Maske ihren Träger befreien kann. Wie Nietzsche sagt, ist man nur frei in der Maske. Und Oscar Wilde führt den Gedanken weiter, wenn er sagt: Wenn du von jemandem wissen willst, was er wirklich denkt und fühlt, dann setze ihm eine Maske auf, und er wird es dir sagen.
7. FAZ: Weil sie eine asymmetrische Situation schafft: Ich sehe etwas von dir, was du von mir nicht siehst?
das Ziel(e) la cible / der Angriff(e) l’attaque / herunterreißen(i,i) arracher / die Forderung nach la revendication, l’exigence de. 4. Gesicht zeigen afficher son opinion / gesellschaftlich social / öffentlich public / sich dar-stellen se présenter / sich einer Sache entziehen(o,o) se dérober à qqch / der Blicktausch l’échange de regards / verlangen réclamer / ein-fangen(i,a,ä) capturer. 5. die Sichtbarkeit la visibilité / der Stellenwert l’importance / miteinander verbunden sein être liés / die Bildgattung le genre (de peinture) / das Tafelbild le panneau peint / das Selbst le moi / der Träger le vecteur. 6. zeitlich begrenzt limité dans le temps / der Rollenwechsel le changement de rôles / die Übereinkunft l’accord, le consensus / wiederum à son tour / die Vorstellung l’idée / weiter-führen pousser plus loin / jdm etw auf-setzen mettre qqch à qqn. 7. schaffen(u,a) créer / Belting: Genau. Eine asymmetrische Blicksituation bedeutet immer Machtgewinn oder Machtverlust. Für die eine oder die andere Seite.
8. FAZ: Diesen Effekt zeitigt auch die Vollverschleierung der Frau. Gibt es in der europäischen Kultur eine vergleichbare Tradition des Gesichtsentzugs? Belting: Man kann die Halbmaske der italienischen Commedia dell’Arte sicher nicht dazurechnen und auch nicht den Karneval, denn in den Spektakeln wird uns ja ein anderes Gesicht gezeigt oder geradezu aufgedrängt, ein Gesicht, in dem wir einen Typus erkennen. Aber das ist eine andere Ebene. Eine Analogie zum blickdichten Tuch vor dem Gesicht oder dem vergitterten Blick der Burka haben wir nicht.
9. FAZ: Das Argument für die weibliche Verhüllung im Islam lautet, sie schütze vor Männerblicken. Den anstößigen Blick des Mannes gibt es auch in der europäischen Kulturgeschichte. Ich denke an die Ikonographie der Susanna im Bade. Er richtet sich aber auf den Körper, nicht auf das Gesicht. Belting: Ja, absolut. In der profanen Kunst steht aber der Körper der Frau im Vordergrund. Der Körper macht die Frau zum Objekt und entzieht ihr das Recht auf ein Subjekt. Das Gesicht ist Zeichen des Subjekts.
10. FAZ: Konflikte um den Gesichtsschleier gab es auch in der Kolonialgeschichte und unter westlich orientierten Herrschern im islamischen Kulturkreis. Belting: Die französischen Kolonialherren haben den Frauen in Algerien den Gesichtsschleier
der Machtgewinn le gain, l’obtention du pouvoir / der Machtverlust la perte du pouvoir. 8. zeitigen produire, engendrer / der Gesichtsentzug la suppression, le masquage du visage / die Halbmaske le demi masque, le loup / dazu-rechnen prendre en compte / geradezu carrément / auf-drängen imposer / erkennen(a,a) reconnaître / blickdicht opaque / das Tuch(¨er) le morceau d’étoffe, le voile / vergittert grillagé. 9. die weibliche Verhüllung le masquage des femmes par un voile / lauten être / anstößig inconvenant / Susanna im Bade Suzanne au bain (Tintoret) / sich auf … richten se diriger vers … / im Vordergrund stehen être au premier plan / jdm das Recht auf … entziehen(o,o) priver qqn du droit à …/ das Zeichen la marque. 10. der Gesichtsschleier le voile couvrant le visage / westlich orientiert tourné vers l’Occident / der Herrscher le souverain, le dirigeant / der Kolonialherr(en) le colonisateur / verboten. Das haben aber auch Kemal Atatürk in der Türkei und der Schah von Persien getan, denn sie erachteten den Schleier als Hindernis auf dem Weg in die Moderne. Wir stehen in dieser Tradition, wenn wir den Schleier heute verbieten. Als eine moderne Gesellschaft halten wir uns für aufgeklärt und frei, und jetzt kommt in einer neuen Weltlage der Schleier zu uns. Die Debatte um den Schleier ist aber nicht mehr zu trennen von der Unterdrückung der Frau im islamischen Fundamentalismus, der in sich einen Affront enthält gegen bessere islamische Traditionen.
11. FAZ: Warum ist die Gioconda das meist besuchte Bild im Louvre? Belting: Weil ihr Lächeln so unergründlich ist. Ihr Lächeln scheint ein Geheimnis zu bergen. Und man darf nicht vergessen, dass sie eines der frühesten Porträts war, das das Lächeln zugelassen hat. Hans Belting, Faces. Une histoire du visage, Gallimard.
etw als … erachten juger que qqch est … / das Hindernis l’obstacle / sich für … halten(ie,a,ä) se considérer comme … / aufgeklärt sein être éclairé, informé / die Weltlage la situation mondiale / trennen séparer / die Unterdrückung l’oppression / enhalten(ie,a,ä) contenir. 11. das Lächeln le sourire / unergründlich impénétrable / ein Geheimnis bergen(a,o,i) renfermer un secret / frühest≈ plus précoce, premier / zu-lassen autoriser.
Das echte Gesicht steht in unserer Kultur für den Ausdruck der Wahrhaftigkeit, aber auch der Gefährdung. Man kann sein Gesicht verlieren.