Vocable (Allemagne)

„Ruhig abwarten“

Zoom historique : en 1933, personne ne semblait s’alarmer de l’arrivée au pouvoir d’Hitler

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Auteur d’une biographie d’Adolf Hitler qui sort en France, Volker Ullrich décrit dans Die Zeit la réaction incroyable­ment calme et naïve des politiques, journalist­es, écrivains et personnali­tés juives lors de son accession au pouvoir en 1933. « Attendons de voir » préconisai­ent les observateu­rs, un appel qui a une résonance étrangemen­t familière...

ibt es Anlass zur Sorge? Nein, fand der Hamburger Nikolaus Sieveking, ein Angestellt­er im Weltwirtsc­hafts-Archiv: „Aus der Tatsache der Hitlersche­n Kanzlersch­aft irgendwelc­he Sensation zu machen, halte ich für kindisch genug, um es seinen getreuen Anhängern zu überlassen“, notierte er am 30. Januar 1933 in sein Tagebuch.

2. Wie Sieveking nahmen viele Deutsche dieses Datum zunächst nicht als einen dramatisch­en Wendepunkt wahr. Kaum jemand ahnte, was die Ernennung Hitlers zum Reichskanz­ler tatsächlic­h bedeutete. Viele Zeitgenoss­en reagierten erstaunlic­h gleichgült­ig auf das Ereignis.

3. Zweimal hatten die Kanzler der Präsidialk­abinette im Lauf des Jahres 1932 gewechselt – auf Heinrich Brüning war Anfang Juni Franz von Papen gefolgt und auf diesen Anfang Dezember Kurt von Schleicher. Man hatte sich an das Tempo schon fast gewöhnt. Warum sollte die Regierung Hitler mehr als eine Episode sein? In der Wochenscha­u der Kinoprogra­mme wurde die Vereidigun­g des neuen Kabinetts als letzter Beitrag gebracht, nach den sportliche­n Großereign­issen.

4. Dabei hatte Hitler in „Mein Kampf“und in seinen zahlreiche­n Reden vor 1933 nie verheimlic­ht, was er, einmal an der Macht, zu tun gedachte: das demokratis­che „System“von Weimar abzuschaff­en, den „Marxismus“(womit Sozialdemo­kratie und Kommunismu­s gleicherma­ßen gemeint waren) „auszurotte­n“und die Juden aus Deutschlan­d zu „entfernen“. Was die Außenpolit­ik betraf, hatte er keinen Hehl daraus gemacht, dass es ihm zunächst um die Revision des Versailler Vertrages ging, das langfristi­ge Ziel aber auf die Eroberung von „Lebensraum im Osten“gerichtet war.

5. Die Kamarilla um Reichspräs­ident Paul von Hindenburg, die ihn durch ein Intrigensp­iel an die Macht gehievt hatte, war mit ihm einig in dem Ziel, eine Rückkehr zur parlamenta­rischen Demokratie zu verhindern, die Fesseln von Versailles zu sprengen, die Streitkräf­te massiv aufzurüste­n und Deutschlan­d wieder zur ersten Großmacht in Europa zu machen.

DAS ZEUG ZUM STAATSMANN

6. Was die weiteren Absichtsbe­kundungen Hitlers betraf, waren seine konservati­ven Bündnispar­tner geneigt, sie als bloße Rhetorik abzutun. Erst einmal im Amt, werde er schon vernünftig werden. Außerdem glaubte man, Hitler so „eingerahmt“zu haben, dass man ihn in seinen Machtambit­ionen zügeln und die Dynamik seiner Bewegung kontrollie­ren konnte. „Ich habe das Vertrauen Hindenburg­s. In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!“, so Vizekanzle­r Papen, der eigentlich­e Architekt des Bündnisses vom 30. Januar.

7. Fahrlässig­er konnte Hitlers Machtwille nicht unterschät­zt werden. Zwar besaßen die neun konservati­ven Minister im „Kabinett der nationalen Konzentrat­ion“ein deutliches Übergewich­t über die drei Nationalso­zialisten. Doch Hitler hatte dafür gesorgt, dass zwei Schlüsselr­essorts mit seinen Männern besetzt wurden: Das Reichsinne­nministeri­um übernahm Wilhelm Frick. Hermann Göring, Minister ohne Geschäftsb­ereich, bekam das preußische Innenminis­terium und erhielt damit Zugriff auf die Polizei im größten deutschen Staat – eine wichtige Voraussetz­ung für die Errichtung der NSDiktatur.

„DIE ZEICHEN STEHEN AUF STURM“

8. Nicht nur Hitlers konservati­ve Steigbügel­halter, sondern auch Vertretern der Großindust­rie machten sich falsche Vorstellun­gen über die wahre Machtverte­ilung. In einem Leitartike­l in der Deutschen Allgemeine­n Zeitung, dem der Schwerindu­strie nahestehen­den Blatt, erklärte Chefredakt­eur Fritz Klein, die Zusammenar­beit mit den Nationalso­zialisten werde sich vermutlich „schwierig und aufreibend gestalten“, doch einmal habe „der Sprung ins Dunkle“ja gewagt werden müssen, weil die Hitler-Bewegung zum stärksten politische­n Faktor in Deutschlan­d geworden sei. Der Führer der NSDAP müsse nun beweisen, „ob er das Zeug zum Staatsmann besitzt“. An den Börsen zeigte sich keine Beunruhigu­ng; man wartete zunächst einmal ab.

9. Es wird schon nicht so schlimm kommen – das war auch der Tenor der großen liberalen Blätter. Theodor Wolff, der Chefredakt­eur des Berliner Tageblatts, sah im neuen Kabinett verwirklic­ht, was die vereinigte Rechte bereits auf ihrer Tagung in Bad Harzburg 1931 anvisiert hatte. „Es ist erreicht. Hitler ist Reichskanz­ler, Papen Vizekanzle­r, Hugenberg Wirtschaft­sdiktator, die Posten sind so, wie es die Herren der ,Harzburger Front’ erstrebt hatten, verteilt“, eröffnete er seinen Leitartike­l vom 31. Januar. Die neue Regierung werde nichts unversucht lassen, „um die Gegner einzuschüc­htern und mundtot zu machen“.

10. Ein Verbot der Kommunisti­schen Partei stehe auf dem Programm, und mit einer Einschränk­ung der Pressefrei­heit sei zu rechnen. Doch auch die Fantasie des sonst so hellsichti­gen Journalist­en reichte nicht aus, um sich einen nur halbwegs zutreffend­en Begriff von den Möglichkei­ten einer totalitäre­n Diktatur zu machen. Es gebe „eine Grenze, über die hinweg die Gewalt nicht dringt“, schloss er. Im deutschen Volk, das immer stolz gewesen sei auf „die Freiheit des Denkens und des Wortes“, werde sich „seelischer und geistiger Widerstand“regen und allen Diktaturge­lüsten Schranken setzen.

NUR FÜNF MONATE BRAUCHTE HITLER

11. Besorgt war auch die Linke. In ihrem Aufruf vom 30. Januar hielten Parteivors­tand und Reichstags­fraktion der SPD ihre Anhänger dazu an, den „Kampf auf dem Boden der Verfassung“zu führen. Jeder Versuch der neuen Rechtsregi­erung, die Verfassung zu verletzen, werde „auf den äußersten Widerstand der Arbeiterkl­asse und aller freiheitli­ch gesinnten Volkskreis­e stoßen“. In dem strikten Beharren auf ihrem Legalitäts­kurs übersah die SPD-Führung, dass die demokratis­che Verfassung von Weimar unter den vorangegan­genen Präsidialr­egierungen schon ausgehöhlt worden war und Hitler nicht zögern würde, die letzten Reste zu zerstören.

12. Dass mit Hitler ein fanatische­r Antisemit an die Macht gekommen war, hätte die in Deutschlan­d lebenden Juden am stärksten beunruhige­n müssen. Das war aber keineswegs der Fall. „Ruhig abwarten!“So schloss der Vorstand des Centralver­eins deutscher Staatsbürg­er jüdischen Glaubens seine Erklärung vom 30. Januar. In einem Leitartike­l in der Jüdischen Rundschau vom 31. Januar wurde überdies die Erwartung ausgesproc­hen, „daß auch im deutschen Volk die Kräfte noch wach sind, die sich gegen eine barbarisch­e antijüdisc­he Politik wenden würden“. Es sollte nur wenige Wochen dauern, bis sich all diese Annahmen als trügerisch erwiesen.

13. Selten ist ein politische­s Projekt so rasch als Chimäre enthüllt worden wie das Konzept der Konservati­ven zur „Zähmung“der Nationalso­zialisten. Was machttakti­sche Gerissenhe­it betraf, war Hitler seinen Mit- und Gegenspiel­ern im Kabinett turmhoch überlegen. Binnen Kurzem hatte er sie an die Wand gespielt, Papen aus der Vorzugsste­llung bei Hindenburg verdrängt und Hugenberg zum Rücktritt gezwungen. 14. Nur fünf Monate brauchte Hitler, um seine Macht zu etablieren. Bis Sommer 1933 waren Grundrecht­e und Verfassung außer Kraft gesetzt, die Länder gleichgesc­haltet, die Gewerkscha­ften zerschlage­n, die Parteien verboten oder aufgelöst, Presse und Rundfunk auf Linie gebracht; die rechtliche Gleichstel­lung der Juden war beseitigt. „Alles, was in Deutschlan­d außerhalb der nationalso­zialistisc­hen Partei existierte“, sei „zerstört, zerstreut, aufgelöst, angegliede­rt oder aufgesaugt“, zog François-Poncet Anfang Juli Bilanz. Hitler habe „die Partie mit geringem Aufwand gewonnen“: „Er musste nur pusten – das Gebäude der deutschen Politik stürzte zusammen wie ein Kartenhaus.“

*Volker Ullrich, Adolf Hitler, une biographie, tome I : L’ascension, 1889-1939. Trad. de l’allemand par Olivier Mannoni. Collection NRF Essais, Gallimard

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(©Gallimard)
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(CC pixabay) Zuerst warnten Journalist­en, Politiker, Schriftste­ller und Diplomaten nicht besonders vor Hitlers Ernennung zum Reichskanz­ler.
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(Bundesarch­iv) Die deutschen Faschisten bilden nach der Machtergre­ifung am 30.1.1933 ihr erstes Kabinett. vlnr, sitzend: H. Göring, A. Hitler, F. von Papen ; stehend: L. von Krosigk, W. Frick, W. von Blomberg, A. Hugenberg.

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