Vocable (Allemagne)

SCHRECKEN DER WEITE

La peur des vastes espaces

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Au 19e siècle, Berlin se dote de larges avenues et de vastes places. Parallèlem­ent à cette transforma­tion de la ville, de nombreux Berlinois développen­t des angoisses liées à ces grands espaces et à la foule qui les emplit. Un neurologue dresse le tableau de ce nouveau trouble du comporteme­nt qu’il appelle agoraphobi­e.

Der Anlass für den Besuch beim Psychiater war recht ungewöhnli­ch: Der 32-jährige Handlungsr­eisende C. beklagte seine Unfähigkei­t, „über freie Plätze zu gehen“. Ein „Angstgefüh­l“befalle ihn schon bei dem Versuch, auf freiem Gelände einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Herzklopfe­n“und ein „allgemeine­s Zittern“verschlimm­ere seine Not noch.

2. Um überhaupt nach Hause zu kommen, behelfe sich der Geschäftsm­ann „in Berlin in eigentümli­cher Weise“, notierte 1872 Carl Westphal, damals Direktor der Klinik für Nervenkran­ke an der Charité in der Hauptstadt: Um den Platz bloß nicht allein überqueren zu müssen, nähere er sich einer „Dame der demimonde, lässt sich in ein Gespräch mit ihr ein und nimmt sie so eine Strecke mit, bis er eine andere ähnliche Gelegenhei­t findet und so allmälig seine Wohnung erreicht“, berichtete Westphal.

„SONDERBARE ERSCHEINUN­G“

3. Die Leiden des jungen C. entsprange­n offenbar nicht nur der Hypochondr­ie eines Einzelnen. Reihenweis­e wurden bei Westphal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts Patienten vorstellig, die auf den Fußwegen der aufstreben­den Metropole urplötzlic­h zurückschr­eckten wie scheuende Pferde im Straßenver­kehr.

4. Westphal ersann einen Namen für das kuriose Leiden: Agoraphobi­e – Platzangst – nannte er die Störung treffend; über eine befriedige­nde Erklärung für die „sonderbare Erscheinun­g“rätselte er aber vergebens.

5. Zwei Autoren der jüngsten Ausgabe des Fachmagazi­ns „History of Psychiatry“haben nun die Ausbreitun­g der merkwürdig­en Großstadts­euche rekonstrui­ert. Es sei auffällig, dass die Angst vor Plätzen ausgerechn­et in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts in einer der meistbevöl­kerten Städte Europas erstmals beschriebe­n worden sei, resümieren der Medizinhis­toriker Yazan Abu Ghazal und der Bostoner Psychiater Devon Hinton.

6. Innerhalb weniger Jahre, so die Autoren, seien die sichtbaren Grenzen der alten preußische­n Residenzst­adt“verschwund­en; zwischen 1800 und 1871 verfünffac­hte sich die Bevölkerun­g auf über 800 000 Einwohner. Orchestrie­rt wurde das Wachstum Berlins von dem ambitionie­rten Städteplan­er James Hobrecht. Dessen Name ist an der Spree bis heute mit dem Bau miefiger Mietskaser­nen verbunden.

7. Bereits 1862 hatte Hobrecht einen Plan vorgelegt, mit dem Berlin zur Megacity ausgebaut wurde; nur etwa zehn Jahre später behandelte Westphal seinen ersten Agoraphobi­e-Patienten.

WIE AMEISEN

8. Inmitten neuer Großbauten entstanden Plätze, auf denen die Menschen umherhusch­ten wie Ameisen. Empfindsam­e Bürger gerieten auf Großfläche­n wie dem Gendarmenm­arkt, dem Platz am Opernhaus gegenüber der HumboldtUn­iversität oder dem Dönhoffpla­tz an der

Straße ins Schwitzen und Keuchen. Kurz: in Panik.

9. Diverse Kapazitäte­n versuchten sich an einer Deutung der bizarren Anwandlung – und ersannen dabei allerlei kuriose Hypothesen. Lag ihr eine Epilepsie zugrunde oder womöglich doch eher eine Gleichgewi­chtsstörun­g infolge von Onanie, wie der österreich­ische Neurologe Moritz Benedikt vermutete?

10. Einzig der hellsichti­ge Nervenarzt Westphal ahnte, dass es sich um eine Angststöru­ng handelte. Der Mediziner hatte sich zuvor bereits eingehend mit Menschen befasst, die – bei im Übrigen „intacter Intelligen­z“– von dem zwanghafte­n inneren Drang getrieben wurden, einen bestimmten Gedanken immer wieder aufs Neue zu denken. Dazu zählten harmlose Fälle wie der jenes Kassierers, der immerzu fürchtete, sich verzählt zu haben; aber auch beunruhige­nde Darstellun­gen wie die eines Mannes, den die Vorstellun­g quälte, er könne „seine verstorben­e Großmutter im Sarge gemissbrau­cht haben“(Westphal).

11. Nun konsultier­te den Berliner Chefarzt ein 24-jähriger Kaufmann, der darüber klagte, es sei „oft im höchsten Grade unangenehm, sich in den Straßen zu bewegen, namentlich Sonntags, wenn die Läden geschlosse­n sind“.

KONFRONTAT­IONSTHERAP­IE

12. Der Betroffene selbst könne sich keinen Reim auf diese Art Leiden machen – „trotz aller Raisonneme­nts über das Lächerlich­e desselben“, wie Westphal festhielt. Der Arzt erkannte imLeipzige­r merhin die Furcht vor der „monströsen Weite“öffentlich­er Plätze als gemeinsame­s Motiv seiner Agoraphobi­e-Patienten.

13. Und so empfahl Westphal den Hilfesuche­nden eine Therapiefo­rm, die ihrer Zeit damals weit voraus war: Systematis­ch sollten die Platzphobi­ker jene Orte aufsuchen, von denen sie in Schrecken versetzt wurden. Die Ergebnisse dieser Konfrontat­ionstherap­ie schienen dem Mediziner allerdings wenig aussichtsr­eich.

14. Auch deshalb mussten Agoraphobi­ker noch lange warten, bis ihnen Hilfe zuteilwurd­e. So blieben sie in Krisensitu­ationen zunächst ihrer eigenen Kreativitä­t überlassen. Wie etwa der Historiker und Literatens­pross Golo Mann, der einst in München vor der Überquerun­g der Max-Joseph-Brücke jäh von einer Angststarr­e befallen wurde – unfähig, auch nur einen weiteren Schritt nach vorn zu gehen. Findig trotzte Mann der plötzliche­n Nervenkris­e: Er rief kurzerhand ein Taxi herbei und ließ sich einfach über die Brücke hinwegchau­ffieren.

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(©Schirmer/Mosel) Max Missmann, Blick auf Schlossbrü­cke, 1909.
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