Die neue Lust auf Familie
La famille a de nouveau la cote en Allemagne
Die Deutschen sind Familientiere. Mehr als drei Viertel sagen, die Familie sei für sie das Wichtigste im Leben. So steht es in einer aktuellen Studie des Allensbach-Instituts.
2. Liegt es an den unsicheren Zeiten? Zunächst liegt es nahe, die aktuelle Familienliebe den unsicheren Zeiten zuzuschreiben: Wenn die Welt durch Krisen und Kriege, Terror und politische Polarisierung bedrohlich erscheint, dann sammeln sich die Menschen ums heimische Kaminfeuer. 3. Das Gegenargument ist, dass die Zeiten vielleicht gar nicht unsicherer sind als andere – irgendeine Gefahr droht ja immer. Und zumindest der Arbeitsmarkt und das Konsumklima erscheinen deutlich entspannter als noch vor wenigen Jahren. Zudem können unsichere Zeiten immer auch den Effekt haben, dass Menschen sich gegen eine Familie entscheiden. Die Begründung lautet dann: In diese Welt setze ich doch keine Kinder.
VIEL GELD UND LOB DER POLITIK
4. Ein anderes Erklärungsmuster für den Familien-Boom ist, dass die Arbeitswelt sich in der Vergangenheit stark verändert hat. Mütter arbeiten mehr, Väter weniger, und so ist die klare Trennung von innen und außen aufgehoben. Das könnte allen Familienmitgliedern den Wert und die Kostbarkeit der Familie umso mehr vor Augen führen. In den Schablonen von Feminismus und Maskulinismus ausgedrückt: Wenn Väter stärker im Innenraum der Familie wirken, müssen
Mütter immer mehr von ihrem Herrschaftsgebiet abtreten – was beiden den Wert der Familie erst richtig bewusst macht.
5. Hinzu kommt, dass Familien auch von der Politik viel Lob, Geld und Angebote bekommen. Elterngeld, Kita-Ausbau und Pflegezeiten sind Leistungen der vergangenen zehn Jahre. Wer stärker umworben wird, fühlt sich auch gleich wertvoller. Kinder sind in Zeiten niedriger Geburtenraten nicht nur ein Geschenk für ihre Eltern, sondern auch für den Arbeitsmarkt und das Rentensystem.
6. Angesichts des Fachkräftemangels umgarnen auch Arbeitgeber qualifizierte Bewerber mit Betriebskitas, passgenauen Angeboten von Auszeiten, um Eltern zu pflegen, und Home-Office-Tagen. Wer Familie hat und für sie da sein will, darf sich privilegierter fühlen als noch vor einem Jahrzehnt. Ein neues Selbstbewusstsein entsteht.
WAS GENAU FINDEN DIE MENSCHEN AN FAMILIE SO GUT?
7. Dabei geht die Zahl der Familien eigentlich langsam, aber sicher zurück. Das liegt daran, dass die Zahl der Deutschen ganz allgemein sinkt. Gab es vor zwanzig Jahren noch gut 13 Millionen Familien, sind es jetzt nur noch gut elf Millionen. Wenn das Statistische Bundesamt Familien zählt, dann gehören dazu alle Eltern-Kind-Gemeinschaften.
8. Wer gar keine Familie mehr hat, findet das oft traurig – und schließt sich manchmal mit Fremden, denen es genauso geht, zu Selbsthilfegruppen zusammen. Die heißen dann zum Beispiel „Gegangene Kinder“. Kalt lässt die Familienlosigkeit so gut wie keinen. Wer stattdessen sehr enge Freunde gefunden hat, spricht vielleicht von seiner Ersatzfamilie. Die Familie bleibt der Maßstab, auch bei denen, die sagen: „Freunde sind die Familie, die man sich selbst aussucht.“Aber das sagen sowieso nur wenige: In der Allensbach-Umfrage liegen Freunde als „wichtigster Lebensbereich“weit abgeschlagen auf Platz zwei – nur ein Zehntel nannte sie so. Noch schlechter schneiden mit nur sechs Prozent der Beruf und mit nur vier Prozent die Hobbys ab.
9. Was genau finden die Menschen an Familie so gut? Die Meinungsforscher sagen: vor allem die Liebe. Immer mehr Menschen, heißt es im aktuellen „Zukunftsreport Familie 2030“von Allensbach und der Prognos AG, verbinden mit Familie „lieben und geliebt werden“. Statt 77 Prozent vor zehn Jahren sagen das heute 87 Prozent. Ähnlich eine Forsa-Umfrage von 2015: Da verbanden junge Menschen unter dreißig Jahren mit Familie die Werte Liebe, Geborgenheit, Vertrauen, Freude, Glück, Verlässlichkeit, Sicherheit. Für die Familienmitglieder ist das eigene Rudel ein Rückzugsraum, der Inbegriff des Privaten.
10. Aus Sicht von Staat und Gesellschaft ist die Familie die kleinste Funktionseinheit, für die besonderer Schutz vorgesehen ist. Familien erhalten die Gesellschaft nicht nur im Sinne der biologischen Fortpflanzung. Sie versorgen, erziehen und betreuen darüber hinaus nach wie vor Kinder und bringen ihnen Dinge bei. Sie helfen Jugendlichen, selbst ein Teil der Gesellschaft zu werden. Sie pflegen Alte und Kranke. Auch wenn der Staat für alle diese Aufgaben immer mehr Personal bereitstellt, weil vor allem Mütter, Töchter und Schwiegertöchter nicht mehr selbstverständlich dafür zur Verfügung stehen wollen und sollen – ohne die Familien brächen das Bildungs-, das Gesundheitsund das Sozialsystem zusammen. 11. Dabei spielt die Liebe über die Generationen hinweg eine besondere Rolle. Fast neun Zehntel der Eltern zwischen 40 und 85 nennen das Verhältnis zu den eigenen Kindern
eng, das ist auch für den Staat ein Glück. Ein Drittel der Großeltern in Deutschland betreut regelmäßig Enkel, und vielleicht werden die es ihnen irgendwann danken, indem sie sich um Oma und Opa kümmern, wenn sie richtig alt sind. Schon jetzt helfen viele Junge den Alten, mit neuen Medien umzugehen, wie Allensbach vor Kurzem herausgefunden hat.
FAMILIEN BIETEN SICHERHEIT
12. Familien bieten den Einzelnen, aber auch der Gesellschaft Sicherheit. Sie stehen aber noch für etwas anderes, nämlich Gesundheit. Eine aktuelle amerikanische Studie von Wissenschaftlern aus Toronto und Chicago hat gezeigt, dass enger Kontakt zu Verwandten Menschen länger leben lässt. Enger Kontakt mit Freunden hatte nicht denselben Effekt. Zwei Drittel der Eltern sagten in der AOK-Studie, es gehe ihnen gesundheitlich gut oder sehr gut. 13. Wer Teil einer Familie ist, weiß aber auch, dass Familie Stress und Streit bedeuten kann. Von den Alleinerziehenden sagte nur knapp die Hälfte, es gehe ihnen gut, und zwanzig Prozent waren nicht zufrieden mit ihrem Familienleben. Viele kennen auch das Gefühl der Überforderung. Vor allem berufstätige Mütter mit kleinen Kindern haben oft das Gefühl, ihren Aufgaben nicht gerecht zu werden. Das zeigt nicht zuletzt die steigende Zahl der Anträge auf Mutter-Kind-Kuren.
DER KINDERWUNSCH BEI JUNGEN MENSCHEN WÄCHST
14. Dem Familien-Boom können Stress, Zeitmangel und die Folgen für Seele und Gesundheit nichts anhaben. Wer die sogenannte Rushhour des Lebens schon gemeistert hat, vergisst die Belastungen schnell. Wer die Familiengründung noch vor sich hat, kann manche Anstrengung höchstens ahnen. Was Schlafmangel, Dauer-Verfügbarkeit für ein sehr kleines Wesen, Hormone und die psychische Revolution, ein Kind zu haben, wirklich mit einem machen, muss jeder selbst erleben; es ist ja auch nicht bei jedem gleich.
15. Auf alle Fälle regt sich der Kinderwunsch heute bei mehr jungen Deutschen als vor zehn, fünfzehn Jahren. 87 Prozent der Kinderlosen unter dreißig sagten in einer ForsaUmfrage, sie wollten bestimmt mal Kinder haben, 2003 wünschte sich nur knapp die Hälfte welche. 2014 erreichte die Geburtenrate erstmals wieder 1,5 Kinder pro Frau – den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung. Mehr als ein weiteres Indiz für die neue Lust auf Familie ist der Mini-BabyBoom nicht. Noch nicht?