Wenn die Nebenwirkung heilt
Quand les effets secondaires passent au premier plan
La recherche pharmaceutique découvre sous un nouveau jour d’anciens principes actifs. Certains médicaments sur le marché depuis longtemps révèlent des effets bénéfiques qu’on ne leur connaissait pas, et ouvrent un champ immense de nouvelles possibilités, notamment dans le traitement de certains cancers.
Ärzte sprechen nicht oft von Wundermitteln. Doch für Rapamycin macht Anne Rensing-Ehl eine Ausnahme. Bei den jungen Patienten, denen die Immunologin von der Universität Freiburg das Medikament verschreibt, schwinden innerhalb weniger Wochen die Symptome; und das oft nach einer jahrelangen Odyssee von Klinik zu Klinik. Malina Wieser etwa, heute elf Jahre alt und quietschfidel, erinnert sich nicht mehr an die früheren Leiden.
2. Ihr Vater hingegen weiß alles noch sehr genau. „Als sie sechs Monate alt war, begannen die Probleme“, sagt Alexander Wieser. Es kam zu Fieberschüben, geschwollenen Lymphknoten, Anämie und Erschöpfung. Erst als die Kleine fünf Jahre alt war, wurde die richtige Diagnose erstellt: Malina hat ALPS, eine seltene Blutkrankheit namens Autoimmun-Lymphoproliferatives Syndrom. Es dauerte zwei weitere Jahre, in denen sie verschiedenste Medikamente mit oft starken Nebenwirkungen nahm. Dann verschrieben ihr die Ärzte Rapamycin, und eine rasche Besserung setzte ein.
3. Malina und andere ALPS-Patienten verdanken ihr Glück einer neuen Richtung in der Arzneimittelforschung. Rapamycin ist keine Neuentdeckung. Transplantationspatienten bekommen es seit mehr als 15 Jahren, um das Abstoßen der Organe zu verhindern. Die gründliche Analyse der molekularen Wirkmechanismen des Stoffes brachte Forscher darauf, ihn auch bei ALPS zu testen. Es wurde ein Erfolg.
GEZIELTERE FORSCHUNG
4. Schon in der Vergangenheit erfüllten Medikamente hin und wieder andere Zwecke als ursprünglich vorgesehen. Das berüchtigte Contergan, das schwere Geburtsschäden verursachte, wurde Schwangeren vor 60 Jahren gegen Übelkeit verschrieben. Heute gilt es als wirksame Arznei gegen Blutkrebs und Lepra. Viagra sollte ein Blutdrucksenker werden. Seine potente Nebenwirkung entdeckten die Forscher zufällig.
5. Solche Neuerfindungen waren jedoch Glückstreffer. Mittlerweile gehen Forscher gezielter vor und setzen Werkzeuge der modernen Molekularbiologie ein. „Alle Medikamente steuern eine Vielfalt von Zielen im Körper an – sonst hätten sie ja keine Nebenwirkungen“, erklärt Aris Persidis von der Firma Biovista in Charlottesville/Virginia, USA. Was als Mittel gegen akute Erkran- kungen wie Infektionen entwickelt wurde, kann durchaus auch bei chronischen Leiden wie Krebs und Diabetes helfen.
6. Die Forscher des Biotech-Unternehmens arbeiten nicht im Labor, sondern am Computer. Sie analysieren den chemischen Aufbau medizinisch wirksamer Stoffe und kombinieren die Daten mit Informationen zur Genetik und den molekularbiologischen Mechanismen, die Krankheiten zugrunde liegen. So entstünden „therapeutische Szenarien“, die zunächst weiter am Computer getestet würden, sagt Persidis.
ASPIRIN GEGEN DARMKREBS
7. Die Suche nach Medikamenten im Datendschungel scheint sich zu bewähren: „50 bis 70 Prozent der Stoffe, die wir als potenziell vielversprechend identifizieren, sind in ersten Tests erfolgreich“, sagt Persidis. In der traditionellen Pharma-Entwicklung trifft dies nur auf
eine von 10 000 Substanzen zu.
8. Der neue Trend hilft insbesondere bei der Suche nach Medikamenten gegen Krebs. Die Forscherinitiative ReDO (Repurposing Drugs in Oncology) in Brüssel durchkämmt medizinische Veröffentlichungen nach Hinweisen auf tumorhemmende Substanzen. Die Pharmakologen stoßen auf Arzneien, die in vielen Hausapotheken stehen. Aspirin etwa scheint das Risiko von Darmkrebs zu reduzieren.
9. Das Malariamittel Artesunat könnte vor Metastasen schützen, das Diabetesmedikament Metformin vor Rückfall bei Brustkrebs. In großen Studien wird derzeit geprüft, ob die Stoffe ihr Versprechen halten. Ein entscheidendes Plus: Die Präparate gelten als sicher. Sie sind schon lange auf dem Markt, ihre Nebenwirkungen sind bekannt.
10. Pan Pantziarka, Koordinator von ReDO, betont, dass das Projekt schon Leben rette. Patienten mit dem gefährlichen und entstellenden Hauttumor Angiosarkom etwa sterben normalerweise innerhalb von zwei Jahren. Nun fanden sich Literaturstellen zu längst vergessenen Versuchen.
11. Die hatten im Reagenzglas gezeigt, dass die Krebszellen absterben, wenn sie dem Blutdrucksenker Propranolol ausgesetzt werden. Sterbenskranke Patienten, denen das Medikament jetzt in ersten Tests verschrieben wird, erleben eine dramatische Besserung. „In 100 Prozent der Fälle schrumpfen die Tumoren. Viele der Kranken sind tumorfrei“, sagt Pantziarka.
ANTI-AGING-WUNDER
12. Die Erfolgsgeschichte des Rapamycin dürfte weitergehen. Der Stoff, der auf der Osterinsel entdeckt wurde, seit Jahren Transplantationspatienten und neuerdings auch ALPS-Erkrankten wie der kleinen Malina hilft, hat möglicherweise allgemein lebensverlängernde Wirkung. Fliegen, Würmer und Mäuse auf Rapamycin leben im Durchschnitt 25 Prozent länger.
13. Der Pharma-Konzern Novartis testete ein Derivat des Medikaments an älteren Menschen. Ergebnis: Der Stoff verjüngt das Immunsystem. Die Arznei aus dem Südpazifik könnte sich noch als Anti-Aging-Wunder erweisen.
Die Präparate gelten als sicher, da sie bereits auf dem Markt sind.