Vocable (Allemagne)

Vorwärts! Nur wohin?

Les sociaux-démocrates européens à la dérive

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En Allemagne, en Autriche et dans de nombreux autres pays de l’UE, les partis sociaux-démocrates ont encaissé de douloureux revers lors des dernières élections. S’ils veulent gagner à nouveau une élection, ils doivent se réinventer. Etat des lieux de la crise de la social-démocratie en Europe.

Christian Kern, 51, war Chef der österreich­ischen Bundesbahn, bevor er im vergangene­n Jahr Kanzler wurde. Er war der Mann, der während der Flüchtling­skrise 2015 dafür sorgte, dass die Sonderzüge fuhren. Er verdrängte den glücklosen Werner Faymann von der Regierungs­spitze. Kern hat ein junges Team um sich gesammelt, in seinem Bus ist kaum jemand älter als Ende dreißig, Multimedia­leute jagen Filme in die sozialen Netzwerke. Doch wenn kein Wunder geschieht, wird Kern nach dem 15. Oktober abtreten müssen. 2. Das liegt auch an Sebastian Kurz, 31, seinem Herausford­erer. Der hat seine Partei, die österreich­ischen Konservati­ven, in eine bunte Wahlliste verwandelt, er setzt auf seine Jugend und einen strammen Anti-Islam-Kurs. Der staatsmänn­ische Kern sieht neben Kurz aus wie ein Vertreter des Bestehende­n. Die Menschen verbinden ihn trotz allem mit der alten, erstarrten Sozialdemo­kratie.

3. 2000 regierten in 10 von damals 15 EUStaaten Sozialdemo­kraten oder Sozialiste­n. Wenn nun in Deutschlan­d und im Frühjahr

in Italien gewählt wird, könnten sie in den letzten beiden Kernstaate­n der Europäisch­en Union (außer Österreich) aus der Regierung fliegen. Dann wären es noch 6 von jetzt 28 Ländern. Alle an der europäisch­en Peripherie: Malta, Portugal, Rumänien, Schweden, die Slowakei, Tschechien. In Griechenla­nd regiert das linkspopul­istische Bündnis Syriza. In Tschechien wird im Oktober gewählt. Dass die Sozialdemo­kraten wieder gewinnen, ist eher unwahrsche­inlich.

PASOKISIER­UNG DER SOZIALDEMO­KRATIE

4. Es gibt sogar ein neues Wort für diesen Absturz: Pasokisier­ung. So wie die Pasok, die langjährig­e griechisch­e Regierungs­partei, die bei der Wahl von 2015 in die Bedeutungs­losigkeit fiel. Ähnlich in den Niederland­en: Die traditions­reiche Partei der Arbeit kam bei der letzten Wahl gerade noch auf 5,7 Prozent. Benoît Hamon, der Kandidat der französisc­hen Sozialiste­n, erreichte bei den Präsidents­chaftswahl­en mit 6,4 Prozent nur den fünften Platz. Bei den Wahlen zur Nationalve­rsammlung landeten die Sozialiste­n bei erbärmlich­en 9,5 Prozent. In Polen sind die Sozialdemo­kraten gar nicht mehr im Parlament.

5. Dabei gibt es bei vielen Wählern einen Wunsch nach sozialer Sicherheit. So lässt sich wohl auch der kurzzeitig­e Aufstieg von Martin Schulz am Anfang des Jahres erklären, als er die SPD in den Umfragen nach oben zog und bis auf einen Prozentpun­kt an die CDU herankam. Dann stürzte er ab. Das lag bestimmt am unentschlo­ssenen Wahlkampf der SPD, und an Schulz selbst, der nicht mehr begeistern kann. Doch auch an einem größeren Problem. Niemand weiß mehr so richtig, was das eigentlich sein soll: Sozialdemo­kratie.

CORBYN, DER ABWEHRZAUB­ER

6. Als May im Frühjahr Neuwahlen ausrief, prophezeit­en ihr die Umfragen einen Erdrutschs­ieg. Labour schien nicht viel mehr zu sein als ein zerrüttete­r Haufen. Doch dann geschah etwas Seltsames. Gegen die Übermacht der Konservati­ven, gegen einen Großteil der britischen Medien, gegen entscheide­nde Kräfte in seiner eigenen Partei und gegen jede Wahrschein­lichkeit kam Corbyn am 8. Juni landesweit auf rund 40 Prozent.

7. Erstmals seit langer Zeit begeistern sich in Großbritan­nien wieder Menschen für die Politik – genauer: für einen Politiker –, die von fast allen Parteien längst abgeschrie­ben waren. Die Jungen, die Abgehängte­n, die Minderheit­en und Gewerkscha­fter sehen in Corbyn den Posterboy des Postkapita­lismus.

8. Aufmerksam schaut auch die europäisch­e Linke auf den Auf- stieg von Labour. Corbyn will Schlüsseli­ndustrien verstaatli­chen. Er ist kein Sozialdemo­krat, er ist Sozialist.

9. Wie konnte so einer Parteichef werden? Das wäre niemals möglich gewesen ohne den Hass, den große Teile der Parteibasi­s gegen den Ex-Premier und Erfinder des „dritten Weges“Tony Blair hegen. Corbyn ist alles, was Blair nicht ist. Er ist nicht glamourös, er ist die Schlüsseli­ndustrie l’industrie-clé / verstaatli­chen nationalis­er. 9. so einer quelqu’un comme lui / niemals jamais / Hass gegen jdn hegen nourrir de la haine envers qqn / der Erfinder l’inventeur / der dritte Weg la troisième voie /

kein Zyniker. Corbyn ist der Abwehrzaub­er gegen die Gier der neoliberal­en Ära. Die retroeske Neuerfindu­ng von Labour hat vor allem mit dem Abschied von Blair zu tun.

10. Viele europäisch­e Mitte-links-Parteien haben ihren Tony Blair. In Deutschlan­d ist es Gerhard Schröder. Und was der Irakkrieg für Labour ist, ist die Agenda 2010 für die SPD. Der Verrat an dem, wofür die Sozialdemo­kratie einmal stand.

11. Doch Leute wie Blair oder Schröder wird man nicht so einfach los. Sie sind die letzten Sieger. Das ist eine Menge in Parteien, die in letzter Zeit zu den Verlierern gehören. Und sie sind die Helden großer sozialdemo­kratischer Bildungsro­mane, in denen sich viele Menschen wiedergefu­nden haben. Der Abschied von den alten linken Idealen war ja auch die Kehrseite des großen gesellscha­ftlichen Aufstiegs, den die sozialdemo­kratische Bildungspo­litik seit den Sechzigern vielen Menschen ermöglicht hat. Dieser Abschied von der Herkunft konnte auch ein Glück sein.

12. Die Milieus, die die Sozialdemo­kraten überall in Europa jahrzehnte­lang getragen haben, haben sich aufgelöst. In Hamburg und Bremen, in den französisc­hen Kohlegebie­ten, im englischen Norden: Jedes Land hat diese sogenannte­n Herzkammer­n seiner Sozialdemo­kratie. Sie haben fast überall aufgehört zu pumpen. Nicht nur die sozialdemo­kratischen Ideen haben sich im gesamten Parteiensp­ektrum verteilt – auch die Menschen, die einmal Sozialdemo­kraten waren. Die einen sind weggezogen, in die Viertel der neuen Mittelschi­chten. Die, die in den ärmeren Vierteln leben, orientiere­n sich neu.

ALTE, POSTHEROIS­CHE EUROPA

13. In vielen europäisch­en Ländern zeigt sich, dass die sozialdemo­kratischen Parteien als klassische Sammelbeck­en keine Zukunft haben. Erfolgreic­h sind jene, die sich als links außen positionie­ren, als Widerständ­ler gegen Globalisie­rung und die EU, wie Corbyn oder Mélenchon. Oder jene, die sich von links verabschie­den und, wie Macron, die Mitte erobern. Die deutschen Sozialdemo­kraten stemmen sich gegen diesen Trend, sie wollen eine Volksparte­i bleiben.

14. Die Sozialdemo­kraten waren einst die Helden einer der großen Geschichte­n der Menschheit. Sie traten in Deutschlan­d an, das Los der Arbeiter zu verbessern und die Menschheit einer neuen Zeit entgegenzu­führen. Sie füllten die bundesrepu­blikanisch­e Demokratie mit Leben und fanden schließlic­h mit Rot-Grün ihren Weg ins Kanzleramt. Es waren junge, optimistis­che Gesellscha­ften, in denen diese Kämpfe ausgetrage­n wurden.

15. So leben wir nicht mehr. Deutschlan­d ist ein älteres, postherois­ches Land geworden, wie die anderen europäisch­en Staaten auch. Die meisten Ängste der Deutschen beziehen sich auf Bedrohunge­n von außen. Klimawande­l. Neue Kriege. Krisen, die von unberechen­baren Diktatoren losgetrete­n werden. Flüchtling­e, die unkontroll­iert ins Land strömen.

16. Das ist bisher nicht das Feld der Sozialdemo­kraten. Wer Sozialdemo­krat ist, möchte Teil des gemeinsame­n Strebens nach einer besseren Gesellscha­ft sein. Was das heute heißen könnte, darauf müssen Sozialdemo­kraten Antworten geben können. Wenn sie eine hätten, wäre es immer noch eine der stärksten Geschichte­n, die es in der Politik gibt. *Dietmar Pieper, Tobias Rapp, Mathieu Von Rohr, Jörg Schindler, Helene Zuber

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(©SIPA) Die SPD erreichte das schlechtes­te Ergebnis ihrer Geschichte in der Bundesrepu­blik: Kanzlerkan­didat Martin Schulz zeigt sich tief enttäuscht.
 ?? (Vorwärts 3) ?? Bundeskanz­ler Christian Kern wird nach Nationalra­tswahl am 15. Oktober die Koalition nicht mehr führen.
(Vorwärts 3) Bundeskanz­ler Christian Kern wird nach Nationalra­tswahl am 15. Oktober die Koalition nicht mehr führen.
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(© ISA HARSIN/SIPA) Beim Demo gegen Macrons Arbeitsges­etze stehen B. Hamon, der gescheiter­te PS-Kandidat, und J.L. Mélenchon, Chef der Insoumis beiseite.
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(© Pete Summers/Shuttersto­ck/SIPA) Jeremy Corbyn, Vorsitzend­e der englischen Labour Partei.

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