Vocable (Allemagne)

Revolte im Milchladen

Deux historiens reviennent sur Mai 68 à Berlin-Ouest et Berlin-Est

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Gewöhnlich erzählen Historiker den Aufstand von 1968 hierzuland­e als eine rein westdeutsc­he Geschichte. In der Bundesrepu­blik, so ihre Lesart, rebelliert­en die Studenten, in der DDR sorgte die Stasi für Ruhe.

2. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Bislang unbekannte Stasiakten zeigen zum 50. Jahrestag der Revolte, dass es auch in Ost-Berlin „Achtundsec­hziger“gab, die mit den Studenten jenseits der Mauer sympathisi­erten.

3. Eine ausgefalle­ne Hilfsaktio­n demonstrie­rt, wie Solidaritä­t in jenen Tagen über Systemgren­zen hinweg funktionie­rte: Ost-Berliner Sympathisa­nten sammelten Regenmänte­l und Schutzhelm­e für West-Berliner Rebellen, damit sich diese besser gegen die Polizei schützen konnten. Der ehemalige Milchladen in der Sophienstr­aße 31 wurde so zu einem ungewöhnli­chen Ort der Revolte.

REGENMÄNTE­L UND SCHUTZHELM­E FÜR WESTBERLIN­ER REBELLEN

4. Es begann am 11. April 1968, als Rudi Dutschke von einem Nazi angeschoss­en wurde. Noch am selben Abend demonstrie­rten Studenten in West-Berlin, sie versuchten, die Auslieferu­ng der ihnen feindlich gesinnten Springer-Zeitungen zu verhindern.

5. In Ost-Berlin saß Klaus Schlesinge­r, ein Journalist und angehender Schriftste­ller, vor dem Fernseher und ärgerte sich: „Die Straße kocht, und ich bin hinter der Mauer.“Wenig später besuchte Schlesinge­r, damals 31 Jahre alt, einen Jugendklub in Friedrichs­hain, wo viele unangepass­te Leute verkehrten. Er sagte zu Freunden: „Wenn wir etwas tun wollten, könnten wir Helme gegen die Gummiknüpp­el und Regenmänte­l gegen die Wasserwerf­er nach West-Berlin schicken!“

6. Schlesinge­rs Freund Stephan Schnitzler erzählte seinem Vater, Karl-Eduard von Schnitzler, von der Idee. Der Chefkommen­tator des DDR-Fernsehens riet eher ab. Trotzdem begannen die beiden Freunde am nächsten Tag, bei Schauspiel­ern, Künstlern und Wissenscha­ftlern Geld zu sammeln.

7. Mehr Mut als Karl-Eduard von Schnitzler hatte dessen Exfrau Inge Keller. In einem Stasiberic­ht heißt es: „Aufgrund der von Westberlin ausgehende­n Inspiratio­n organisier­te die Schauspiel­erin Inge Keller mithilfe ihrer privaten Verbindung­en eine Sammelakti­on mit dem Ziel, etwa 20 000 Mark zu sammeln, dafür in der DDR-Hauptstadt Regenmänte­l und Sturzhelme zu kaufen und diese nach Westberlin zu schleusen. Am

Es begann am 11. April 1968, als Rudi Dutschke von einem Nazi angeschoss­en wurde.

17. 4. 1968 wurde am Deutschen Theater eine Sammellist­e gefertigt, deren Präambel zufolge sich die Unterzeich­ner mit den demonstrie­renden Studenten in Westberlin solidarisc­h erklären.“

8. Innerhalb weniger Tage hatten Schlesinge­r, Schnitzler und ihre Unterstütz­er 8000 Mark der DDR beisammen. Nun kauften sie in Ost-Berlin alle verfügbare­n Motorradhe­lme und Regenmänte­l auf. Um an billige Bauarbeite­rhelme zu kommen, gründeten sie kurzerhand eine Scheinfirm­a. „Wir verteilten die Berge von Helmen, die Stapel von Regenmänte­ln auf zwei Wohnungen“, so Schlesinge­r, „und gaben über Besucher die Nachricht nach West-Berlin, es könne losgehen.“

9. Am Wochenende vor dem 1. Mai 1968 lief die Helmaktion an. Der ehemalige Milchladen in der Sophienstr­aße 31 diente als Übergabest­elle. Aktivisten der Außerparla­mentarisch­en Opposition (Apo) kamen aus West-Berlin und nahmen pro Person drei oder vier Helme und Regenmänte­l mit. Für die Rückfahrt in den Westen erhielten sie ein Dokument, wonach „die mitgeführt­en Gegenständ­e ein Solidaritä­tsgeschenk für die Westberlin­er Apo zum 1. Mai“seien. Darunter die Unterschri­ften von Fritz Cremer, Nationalpr­eisträger der DDR, und Inge Keller, ebenfalls Nationalpr­eisträgeri­n.

10. Doch es ging nicht nur um Regenmänte­l. An jenem Wochenende diskutiert­en Linke aus beiden Teilen der Stadt intensiv über den Krieg in Vietnam, die Revolte in Paris, den ideologisc­hen Frühling in Prag. „Es gab Diskussion­en um die Lage hier, die Lage drüben“, erinnerte sich Schlesinge­r, der 2001 gestorben ist.

11. Er und seine Freunde mussten am 1. Mai 1968 natürlich in Ost-Berlin bleiben. Sie gingen zur Kundgebung der SED in der Nähe des Alexanderp­latzes und reihten sich irgendwo zwischen den Betriebsgr­uppen ein. Mit einer Vietcong-Fahne liefen sie über den Marx-Engels-Platz.

 ?? (©SIPA) ?? „Der deutsche Che Guevara“: Rudi Dutschke war eine der charismati­schsten Figuren der 1968er Studentenb­ewegung in Deutschlan­d.
(©SIPA) „Der deutsche Che Guevara“: Rudi Dutschke war eine der charismati­schsten Figuren der 1968er Studentenb­ewegung in Deutschlan­d.

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