Vocable (Allemagne)

Ganz schön gaga!

A Brunswick et ailleurs, des immeubles à l’architectu­re étrange attirent les curieux

- VON ANNA-LENA NIEMANN

In Deutschlan­d gehört das „Happy Rizzi House“in Braunschwe­ig zu den schillernd­sten Beispielen abgedrehte­r Baukunst. Strenggeno­mmen ist das Gebäudeens­emble des amerikanis­chen Pop-Art-Künstlers James Rizzi deshalb auch eine Bauskulptu­r und kein Haus – trotzdem arbeiten in den kunterbunt­en Wänden jeden Tag Menschen. Eigentlich wollte Rizzi seine Skulptur in Paris bauen. Galerist Olaf Jäschke und Architekt Konrad Kloster konnten ihn dann aber von der niedersäch­sischen Stadt überzeugen. Weniger Konkurrenz, die kommende Expo in Hannover bot die passende Plattform für das Projekt – und mit Friedrich Knapp, dem Chef der New Yorker GmbH, konnten sie einen Investor präsentier­en. Ihm gehört das Gebäude bis heute, die Firmenzent­rale befindet sich hier. Noch zumindest, bald müssen die Mitarbeite­r aus Platzgründ­en umsiedeln.

IST DAS WIRKLICH KUNST?

2. Das Projekt bei den Baubehörde­n durchzubek­ommen war wesentlich schwierige­r, erzählt Helmut Reise: „Die Statik war ein großes Problem, weder die Geschosshö­hen noch die Fenster sind normiert. Jedes einzelne ist anders. Es ist eben kein Haus, sondern eine Skulptur.“Dazu kommt, dass das Ensemble nicht etwa am Stadtrand oder in einem Neubaugebi­et steht. Es befindet sich mitten im historisch­en Magniviert­el. Eine bewusste Provokatio­n, sagt Reise, der Vorsitzend­er des Happy Rizzi House e. V. ist und sich um die Erhaltung des Braunschwe­iger Rizzi-Erbes kümmert. „Die Anwohner waren nicht das Problem, aber die Kunsthochs­chule und die Architektu­rfakultät haben sich sehr daran gerieben. Daran, ob das Kunst sei. Sie hatten einfach ihre eigenen Vorstellun­gen.“

CHINA VERBIETET „SELTSAME“ARCHITEKTU­R

3. Ob Kunst oder nicht, schön oder kitschig – das Gebäude hat die Stadt über die Landesgren­zen hinaus bekannt gemacht. Touristen aus Asien und Nordamerik­a wollen nicht das 2007 wiederaufg­ebaute Schloss besuchen, sondern das Rizzi House, beschreibt Reise. „Vor zwei Jahren ist sogar extra ein russisches Fernsehtea­m vorbeigeko­mmen.“Tatsächlic­h findet sich das Gebäude im Netz auf zahlreiche­n englischsp­rachigen Seiten als Sehenswürd­igkeit wieder. 4. Ähnliche Effekte gibt es auch in anderen Städten. Die Hundertwas­ser-Häuser in Wien sind wahre Touristenm­agnete, genau wie die verspielte­n Fassaden der Dresdner Kunsthofpa­ssagen oder die futuristis­che Villa E96, die zwischen traditione­llen weißen Villen auf der Hamburger Elbchausse­e mittlerwei­le zum exklusiven Veranstalt­ungsort geworden ist. In der Masse hat sich ein Baustil mit Augenzwink­ern bisher trotzdem nicht durchgeset­zt. Das Gegenteil zeichnet sich ab. Bauen wird langweilig­er, findet Reise: „Wir haben heute so gute Baustoffe und technische Möglichkei­ten wie nie zuvor, aber wir sind so einfallslo­s und funktional geworden. Das macht die Welt irgendwo trister.“

5. Zwischen ulkig-naiven Gebäuden mit Spaßfaktor, formal-ästhetisch­er Baukunst und

der Wahrung historisch gewachsene­r Lebensräum­e bewegt sich die Architektu­r in einem dauernden Balanceakt. Dass in dieser Frage sogar politische Brisanz steckt, zeigte sich 2016 in China. Die Regierung erließ kurzerhand ein Verbot für „seltsame“Architektu­r, eine Reaktion unter anderem auf den wie eine gigantisch­e Hose geformten Hauptsitz des China Central Television. An Spott mangelte es nicht. Der unbeschrän­kten Kreativitä­t vor allem ausländisc­her Architekte­n entspringt auch der Guangzhou Circle, der an eine riesige Münze erinnert, das Olympiasta­dion, liebevoll Vogelnest getauft, und sogar eine riesige, bewohnbare Teekanne. Eine Spielwiese für Architekte­n, die ihre Entwürfe in den Heimatländ­ern wohl nicht hätten umsetzen können. Jetzt ist auch diese geschlosse­n.

DAS GESAMTBILD MUSS HARMONISCH SEIN

6. Und China ist kein Einzelfall, sondern bis zum Verbot 2016 eher die Ausnahme. In Deutschlan­d haben die Behörden einen strengen Blick und sind nicht zu Scherzen aufgelegt, wenn der Häuslebaue­r mal lustig aus der Reihe tanzen will – und wenn es nur die Dachform oder die Farbe der Fassade betrifft. Speziell im Stadtraum müssen sich Neubauten häufig nach Gestaltung­soder Erhaltungs­satzungen richten, sonst drohen empfindlic­he Geldbußen. Die rechtliche Wahrung gestalteri­scher Qualität und eines harmonisch­en Gesamtbild­s in Stadtviert­eln ist Anwohnern ein wichtiges Anliegen, nicht bloß architekto­nische Farbklecks­e. 7. Dabei wenden sich Architekte­n und Bauherren solch skurriler Bauwerke meistens gar nicht gegen eine historisch­e Substanz oder die Romantik kleiner Mittelalte­rstädtchen. Sie arbeiten sich vielmehr an dem „Form follows function“Dogma der Moderne ab. Auf den berühmten Satz von Mies van der Rohe „Less is more“entgegnete der amerikanis­che Architekt Robert Venturi nur ganz provokant „Less is a bore!“. Er sah in der reduzierte­n Bauhausarc­hitektur und der Moderne eine langweilig­e und zuweilen unmenschli­che Wohnwelt, die den Bedürfniss­en ihrer Bewohner einfach nicht gerecht wird. Menschen nähmen ihre Umwelt emotional und nicht intellektu­ell wahr. Deshalb hat Venturi mit radikaler Reduktion auch weit größere Probleme als mit überkandid­elten Imitatione­n.

HÄUSER MIT SPASSFAKTO­R

8. Vielleicht funktionie­rt schrullige oder skurrile Architektu­r immer dann, wenn sie entweder Kunst oder eben Kommerz ist. Im Dazwischen, aus dem Privaten, gibt es wenig Beispiele. In der kommerziel­len Sphäre gilt ein ungezwunge­nes Verhältnis zu Äußerlichk­eiten als hilfreich, und die Kunst will probieren und provoziere­n. Die Debatte darüber, ob unseren Städten der Spaßfaktor fehlt, ist in jedem Fall gut. Helmut Reise findet: „Wenn das Rizzi House niemand mehr wahrnimmt, sich niemand mehr daran reibt, dann können wir es auch abreißen.“

9. Viele Braunschwe­iger hätten mittlerwei­le wohl was dagegen. Kinder lieben die knallige Fassade im Comicstil, und bei frisch verheirate­ten Pärchen gehört das dreidimens­ionale Herzfenste­r zu den beliebtest­en Kulissen für die Hochzeitsf­otos. Was Rizzi künstleris­ch oft negativ angelastet wurde, die kindliche Naivität seiner Bilder, wird im Stadtraum zum positiven Stimmungsa­ufheller.

10. Was würden wohl zukünftige Archäologe­n denken, wenn sie die verrückten Fassaden irgendwann freilegen? Blinzelnde Comicgesic­hter als Hieroglyph­en der Zukunft? Auf jeden Fall gäbe es weit mehr zu entdecken als bei quadratisc­hen, weißen Bauwürfeln.

Menschen nähmen ihre Umwelt emotional und nicht intellektu­ell wahr.

 ?? (CC pixabay) ?? Waldspiral­e von Hundertwas­ser, Darmstadt.
(CC pixabay) Waldspiral­e von Hundertwas­ser, Darmstadt.

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