Abgewandert
Comment votent les Russes et les Turcs d’Allemagne ?
Martin Schulz in Berlin, Christian Lindner in Düsseldorf, Angela Merkel und Horst Seehofer in München: Die Spitzenkandidaten wählten im September die Landeshauptstädte als Bühne, um ihren Wahlkampf zu beschließen. Die AfD aber lud nach Pforzheim, in ihre Hochburg in Baden-Württemberg.
2. Knapp 40 Prozent holte ihr Kandidat Waldemar Birkle dann bei der Bundestagswahl im Stadtteil Buckenberg-Haidach, im Volksmund Klein-Moskau genannt. In bestimmten Vierteln von Nürnberg, Deggendorf oder Lahr gab es ähnliche Ergebnisse. Das Muster: Wo viele Aussiedler wohnen, schnitt die AfD gut ab.
DEUTSCHTÜRKEN TREU ZUR SPD
3. Eine Studie der Universitäten Köln und Duisburg-Essen analysiert nun erstmals bundesweit, welcher Partei Migranten ihre Stimmen geben. Die Forscher Achim Goerres, Sabrina Mayer und Dennis Spies befragten neben Deutschrussen eine weitere gewichtige Gruppe – deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft. Während die Deutschrussen von der Union zur AfD und zur Linken abwanderten, stehen die Deutschtürken recht treu zur SPD: Mehr als jeder dritte gab ihr seine Stimme.
4. „Grundsätzlich prägen traditionelle Bindungen das Stimmverhalten von Wählerinnen und Wählern mit Migrationshintergrund“, sagt Spies, Politikwissenschaftler an der Universität Köln. Vereinfacht lauteten die in den beiden Gruppen gepflegten Erzählungen so: „Die SPD setzt sich für Gastarbeiter ein, die CDU hat die Russlanddeutschen in die Bundesrepublik geholt.“Anders als den Sozialdemokraten scheint es der CDU aber nicht mehr zu gelingen, daraus Gewinn zu ziehen. 5. Detaillierte Aussagen zu landsmannschaftlichen Präferenzen beim Wahlverhalten sind in der deutschen Forschung rar. Während die Demoskopen schon seit Jahren etwa das „Hispanic Vote“, das Stimmverhalten der Latinowähler, bei der US-Wahl analysieren, gibt es in Deutschland wenige Erkenntnisse. Dabei hatten bei der Bundestagswahl 2017 rund zehn Prozent der Wahlberechtigten einen Migrationshintergrund, vorweg Deutschtürken und Deutschrussen.
6. Die drei Wissenschaftler mussten ihre Forschungsobjekte erst ausfindig machen. Sie ließen in Melderegistern nach Männern suchen, deren Vorname einen Migrationshintergrund vermuten lässt. Waldemar oder Eugen zum Beispiel deutet auf eine russlanddeutsche Herkunft hin. Jeweils rund 500 Deutschtürken und Deutschrussen wurden einzeln befragt. In ergänzenden Gruppeninterviews offenbarten vor allem ältere Aussiedler ihre Verbundenheit mit den Christdemokraten.
ERDOGAN KOMMT NACH MERKEL ODER SCHULZ
7. Mit „Helmut Kohl an der Spitze“, sagte einer von ihnen, „konnten die Russlanddeutschen nach Deutschland kommen, und das zählt“. Weniger positiv sind seiner Ansicht nach die vergangenen Jahre verlaufen. „Was passiert ist 2015“, habe ihn verunsichert. Bei den Einwanderern messe die Politik mit zweierlei Maß. „Wir haben Riesenprobleme gehabt reinzukommen“, beklagt der Mann. Andere würden „einfach durchgewinkt“.
8. Viele Wahlberechtigte unter den Deutschrussen fühlen sich benachteiligt und haben wenig Vertrauen in die Politik. 15 Prozent bekannten, die AfD gewählt zu haben. Die Forscher gehen davon aus, dass der Anteil tatsächlich höher liegt. 9. Die Deutschtürken wiederum sind eine recht heterogene Gruppe, Volksgruppe und Glauben prägen das Wahlverhalten. Kurden mögen keine andere Partei so sehr wie die Linke, unter den Aleviten sind die Grünen besonders populär. In Nordrhein-Westfalen erhielt die Allianz Deutscher Demokraten demnach zwölf Prozent der Stimmen der Deutschtürken; sie steht der türkischen Regierungspartei AKP nahe.
10. Was Deutschtürken und Deutschrussen eint: die überdurchschnittlich große Sehnsucht nach einem starken Anführer. Die beiden kraftmeiernden Präsidenten ihrer Herkunftsländer kommen allerdings unterschiedlich gut an. Die Deutschrussen schätzen Wladimir Putin, die Deutschtürken beurteilen Recep Tayyip Erdoğan im Durchschnitt negativ: Er erhielt schlechtere Werte als Merkel oder Schulz.
Was Deutschtürken und Deutschrussen eint: die überdurchschnittlich große Sehnsucht nach einem starken Anführer.