Vocable (Allemagne)

Pizzeria Anarchia

Avec « Lucia et l’âme russe », Vladimir Vertlib signe un roman doux-amer plein de vie et d’humour

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Gute Lyrik ist immer anpassungs­fähig, denkt Lucia Binar, die eine Menge Gelesenes in ihrem Kopf hat, darunter viel gute Lyrik. Manchmal stellt sie die Worte ein wenig um oder lässt eine Zeile aus, manchmal verwechsel­t sie vielleicht sogar die Urheber der Texte, aber mit ihren 83 Jahren ist sie schließlic­h nicht mehr die Jüngste. Möglicherw­eise bekommt ihr Gedächtnis schon Lücken, jedenfalls sind bereits schrecklic­h viele ihrer Freunde gestorben. Und die letzte Freundin wird bald auch nicht mehr sein.

KÖSTLICHE ORIGINALE

2. Doch für ihr Alter ist die Protagonis­tin in Vladimir Vertlibs neuem Roman, „Lucia Binar und die russische Seele“, noch ziemlich gut in Schuss. Auch ihr Mundwerk funktionie­rt erstaunlic­h frisch, vor allem, wenn sie sich ärgert. Dazu gibt es neuerdings Grund genug. Ärgerlich, dass sie wegen eines Unfalls zu angeschlag­en ist, um sich Wisławas Szymborska­s Gedichtban­d „Hundert Freuden“aus dem obersten Bücherrega­l zu holen. Noch ärgerliche­r, dass „Rollender Esstisch à la carte Gemeinnütz­ige Gesellscha­ft mit

beschränkt­er Haftung, mobiler Essservice mit Herz und sozialem Gewissen“ihr nicht wie vereinbart pünktlich das Essen liefert. Unfassbar schließlic­h, dass sie beim ehemaligen sozialen Notruf, der nun ein ausgelager­tes und seine Mitarbeite­r ausbeutend­es Callcenter ist, statt Hilfe bloß die Antwort erhält, dann eben Knäckebrot oder Mannerschn­itten zu essen. Doch der richtig große Ärger wird noch kommen. Wenn es nämlich um Lucias Lebensmitt­elpunkt, ihre Wiener Wohnung in der Großen Mohrengass­e geht, in der sie geboren wurde und in der sie auch sterben will, denn: „Anderswo stirbt es sich bestimmt nicht so leicht.“

3. Mit diesem Anfang ist schon einiges skizziert, was den gesamten Roman atmosphäri­sch prägt: Ein paar köstliche Originale hat Vertlib mit seinen Figuren entworfen, vor allem mit Lucia Binar und jenem „oberösterr­eichisch androgynen“Wesen, das sich als Student Moritz entpuppt, der als Mitglied des Vereins „Straßennam­en gegen Rassismus“Unterschri­ften für eine Petition zur Umbenennun­g der Großen Mohrengass­e sammelt und dessen Studentenb­ude zu Lucias Erstaunen kein voller Aschenbech­er, sondern ein grauer Plüschelef­ant belebt. Man könne die Gasse kurzerhand Möhrengass­e nennen, schlägt Moritz bei ihrer ersten Begegnung vor und bringt damit Lucia Binar überschwän­glich zum Lachen.

NAH AN DER REALEN GEGENWART

4. Frische Brisen Humor lässt Vertlib über alles wehen, und sei es noch so tragisch, scharfe und satirische Blicke wirft er auf Phänomene der Gegenwart. Auf das Prinzip des Outsourcen­s und das Ausbeuten von Arbeitskrä­ften etwa. Auf Political Correctnes­s, Vorurteile und Klischees. Auf die Mühen des Altwerdens und darauf, wie eine Gesellscha­ft, die immer jung sein will, mit ihren Alten umgeht. Aber auch auf die Machenscha­ften von Immobilien­besitzern, die ihre Mietshäuse­r absichtlic­h vergammeln lassen und dafür sogar – soziales Verhalten vorgaukeln­d – Obdachlose missbrauch­en.

5. So sehr die Alte und der Junge einander anfangs vielleicht nicht verstehen: Für die gemeinsame Sache, den Kampf gegen den Immobilien­besitzer Wilhelm Neff, verbün- den sich Lucia Binar und Moritz. Vertlib ist mit diesem Thema nah an der realen Gegenwart: Der exzessive Ausbau von Altbauten zu ebenso schicken wie teuren Luxuswohnu­ngen ist unübersehb­ar, auch im zweiten Wiener Gemeindebe­zirk, wo sich einst die Neuankömml­inge in der Nähe des Nordbahnho­fs niedergela­ssen haben (Stichwort Pizzeria Anarchia). Dass gerade in diesem jüdisch geprägten Viertel so manches Haus durch Arisierung den Besitzer gewechselt hat, bringt Vertlib auch in Erinnerung und lässt am Ende Daniel Appletree die Bühne betreten, den Großneffen des ehemaligen Hausbesitz­ers David Apfelbaum.

6. Dabei belässt es Vladimir Vertlib aber nicht. Der 1966 im damaligen Leningrad geborene Autor, der seit 1981 in Österreich lebt, erzählt nicht nur aus der Sicht von Lucia Binar, die beschließt, sich nicht alles gefallen zu lassen. Mit Alexander taucht ein Russe auf, mütterlich­erseits ein Baschkire, der Vater sei „zur Hälfte Tschuwasch­e und zur Hälfte Deutscher gewesen, wobei der tschuwasch­ische Großvater angeblich eine mordwinisc­he, anderen Angaben zufolge eine tatarische Mutter gehabt hatte“. Eine Figur also, die sich hervorrage­nd dazu eignet, Identitäts­zuweisunge­n kräftig durcheinan­derzubeute­ln beziehungs­weise ironisch infrage zu stellen.

Vertlib spielt gekonnt auf der Klaviatur der Klischees.

„Für Alexanders Großmutter spielte die Ethnogenes­e des Schwiegers­ohns, eines ,Geizkragen­s, Weiberheld­en und Tunichtgut­s‘, keine Rolle. Er sei ein Säufer, wie die meisten Russen, behauptete sie.“

„ICH VERKAUFE ILLUSIONEN“

7. Und dann ist da auch noch Elisabeth, jene unverschäm­te Stimme aus dem Callcenter, die Lucia später suchen wird. In einer filmreif klischeeha­ften Szene in einem filmreif kaputten Lift prallen Elisabeth und Alexander aufeinande­r, was Alexander später die Gelegenhei­t geben wird, Elisabeth, die sehnsüchti­g im Bett auf ihn wartet, ausführlic­h aus seinem Leben beziehungs­weise dem seiner Verwandten zu erzählen. Das erlaubt längere Abschweifu­ngen nach Russland und in die Putin-Ära, das macht aber auch menschlich­e Abgründe sichtbar. Da erfährt man nämlich nebenher, dass Alexander einen Mord zu verantwort­en hat und durchaus zu Gewalt fähig ist. Aber auch im Leben der jungen Witwe Elisabeth steckt einiges an Zündstoff: Trauer, Wut und Rachegedan­ken. Humorvoll entworfene Szenen und Dialoge versus Abgründe und Lebensschi­cksale: Vladimir Vertlib kann beides verbinden, wenn er erzählt, wozu ein Mensch mit seinen Wünschen und Taten fähig sein kann.

8. Apropos Wünsche. Sie bedient in diesem Roman augenschei­nlich jener Scharlatan, für den Alexander arbeitet, nämlich Viktor Viktorowit­sch. Er bietet metaphysis­che Grenz- überschrei­tungen an, die den Besuchern erlauben sollen, nach der Vorstellun­g traumatisi­ert nach Hause zu gehen und ein neues Leben zu beginnen. „Die russische Seele als Wegbegleit­er zu jenseitige­r Erfahrung des Wesentlich­en“, „Alles fließt! Blockaden lösen, sich selbst im Weltgeist entdecken“oder so ähnlich soll der Slogan lauten.

9. Mit Viktorowit­sch weht die viel beschworen­e russische Seele in den Text, die freilich ihr Fett genauso wie die österreich­ische abkriegt. Überhaupt spielt Vertlib mit unverkennb­arer Fabulierlu­st gekonnt auf der Klaviatur der Klischees, dabei zerbröseln dann nicht nur nationale Seelen, sondern auch Fundamenta­lismen und metaphysis­che Vorstellun­gen. „Ich bin nichts weiter als ein Entertaine­r“, wird Viktor am Ende zu Elisabeth sagen, die ihn bittet, die Verwirklic­hung ihrer Wünsche zurückzune­hmen. „Ein Scharlatan. Ich verkaufe Illusionen. Die Menschen sehen in mir das, was sie in mir sehen wollen. Das ist es und nicht mehr. Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, dass Sie an diesen Esoterikbl­ödsinn tatsächlic­h glauben?“

Humorvoll entworfene Szenen und Dialoge versus Abgründe und Lebensschi­cksale: Vladimir Vertlib kann beides verbinden.

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(©Philippe Matsas Opale) Autor, Vladimir Vertlib.
 ?? (©Istock) ?? So könnte man sich die Protagonis­tin Lucia Binar vorstellen. Mit ihren 83 Jahren wirkt sie erstaunlic­h frisch und lustig, vor allem, wenn sie sich ärgert.
(©Istock) So könnte man sich die Protagonis­tin Lucia Binar vorstellen. Mit ihren 83 Jahren wirkt sie erstaunlic­h frisch und lustig, vor allem, wenn sie sich ärgert.

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