DIESER SKANDAL WAR WICHTIG Was Kunst darf, ist auch eine verfassungsrechtliche Frage.
Ce scandale était important
En Allemagne, le prix Echo, l’équivalent des Victoires de la musique, disparaît suite au scandale suscité par la remise du prix 2018 aux rappeurs Kollegah et Farid Bang, auteurs de textes aux accents antisémites, homophobes et misogynes. Cet incident inspire à Volker Boehme-Nessler une réflexion plus large sur l’art et ses limites.
Auschwitz, Holocaust und Battle-Rap – das ist eine explosive Mischung. Wie kann man so etwas mit einem Musikpreis auszeichnen? Die Empörung über den Echo für Kollegah und Farid Bang war vorauszusehen – und sie ist schon fast wieder verraucht. Sie hat offenbar Konsequenzen für die beiden Battle-Rapper und den EchoMusikpreis, der nun abgeschafft wurde.
2. Die Songs wurden kurz und heftig diskutiert. Manche, nicht alle, Echopreisträger haben ihre Preise aus Protest zurückgegeben. Im Vordergrund stand die moralischpolitische Frage, ob Antisemitismus mit einem Preis ausgezeichnet werden darf, auch wenn er sich in künstlerischer Form präsentiert.
3. Ist es nicht gerade typisch für Battle-Rap als spezielle Kunstform, sich äußerst aggressiv und provozierend über alle Grenzen des guten Geschmacks, der politischen Korrektheit und der Moral hinwegzusetzen? Aggressive Ignoranz und widerwärtige, immer weiter eskalierende Provokation – sind das nicht wichtige Stilmittel dieser Kunstform? Ist Kunst immer völlig frei? Oder gibt es auch letzte Grenzen für die Kunst?
KUNST KANN WEHTUN
4. Kunst dient nicht der Erbauung in der Gartenlaube. Sie ist nicht nur dem Guten und Wahren und Schönen verpflichtet. Sie darf auch lügen, sie kann zügellos, pervers, widerwärtig und pornografisch sein, sie darf das Hässliche, das Böse, das Abgründige der Welt zum Thema machen. Kunst soll an die Schmerzgrenze gehen – und noch weit darüber hinaus. Sie kann auch wehtun. Große Kunst tut oft sehr weh. Aber darf Kunst wirklich alles?
5. Was Kunst darf, ist nicht nur eine moralische oder politische oder künstlerische Frage. Es ist auch eine verfassungsrechtliche Frage. Denn das Grundgesetz befasst sich intensiv und rechtlich verbindlich mit allen Aspekten der Kunst. Deshalb sind auch viele Gerichte – auch das Bundesverfassungsgericht – immer wieder mit der Frage nach den Grenzen von Kunst befasst. Auch im Fall von Jan Böhmermanns ErdoganGedicht geht es genau darum.
6. Die Verfassung garantiert die Freiheit der Kunst ohne Vorbehalt. Das Grundrecht der Kunstfreiheit reicht weit. Es schützt nicht nur das künstlerische Werk an sich. Es hat auch den Wirkungsbereich der Kunst im Blick. Das Grundgesetz weiß, dass Kunst auch kommuniziert werden muss. Wenn sie nicht verbreitet und rezipiert wird,
bleibt sie wirkungslos, ja belanglos. Romane, die in der Schublade des Autors verstauben, sind traurig. Musik, die nicht gehört wird, ist irrelevant. Bilder, die nicht zu sehen sind, können nichts bewirken.
7. Für die Verfassung heißt Kunstfreiheit deshalb auch: Alles, was der Kommunikation von Kunst dient, ist genauso geschützt wie ein Kunstwerk selbst. Ein weiter reichender Schutz ist kaum denkbar. Das ist eine bewusste Konsequenz, die das Grundgesetz aus historischen Erfahrungen mit der Nazizeit gezogen hat. Es sollte nie wieder möglich sein, dass der Staat Kunst als „entartet“stigmatisiert und verbietet.
GRENZEN DER KUNSTFREIHEIT
8. Darf Kunst also tatsächlich alles? Gibt es keine verfassungsrechtlichen Grenzen für die Kunst – und damit für den BattleRap von Kollegah und Farid Bang? Doch, es gibt Grenzen der Kunstfreiheit, gezogen von der Verfassung selbst. Das ist letztlich banal. Denn so wichtig Kunst auch ist, sie ist nicht alles. Es gibt andere Rechtsgüter, die genauso wichtig oder – im Einzelfall – wichtiger sind. Wenn Kunst mit anderen Verfassungsgütern kollidiert, kommt sie an ihre Grenzen.
9. Dann muss sorgfältig abgewogen werden, was im konkreten Einzelfall wichtiger ist – die Kunst oder das andere, kollidierende Verfassungsgut. Kunst und Jugendschutz ist eine klassische Kollision, die das Bundesverfassungsgericht immer wieder beschäftigt hat. Bei pornografischen Kunstwerken etwa kann es sein, dass sie wegen Jugendgefährdung ausnahmsweise nicht verbreitet werden dürfen. Oder ein anderes Beispiel: Vor allem Schlüsselromane können Persönlichkeitsrechte verletzen, wenn leicht zu entschlüsseln ist, wer die realen Vorbilder der Romangestalten sind. Der Roman „Esra“von Maxim Biller ist ein Beispiel dafür.
10. Was bedeutet das jetzt für die umstrittenen Texte der Battle-Rapper? Im Song
„0815“findet sich die Zeile: „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen.“Und: „Mache wieder mal ’nen Holocaust, komm an mit dem Molotow“, heißt es in „gamechanger“, einem anderen Rap des aktuellen Albums „JBG3“. Sprengt das die Grenzen der Kunstfreiheit?
11. Rap spiegelt als Kunstform ein Milieu, das von Aggression, Gewalt, Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus und Homophobie geprägt ist. Schon deshalb sind die Texte homophob, frauenfeindlich, antisemitisch, gewalttätig und aggressiv. Es ist geradezu das Kennzeichen von Battle-Rap, das in der Konfrontation bis zum Alleräußersten zu treiben – und noch weiter über jede Grenze zu gehen.
12. Er ist deshalb eine besonders schwer verträgliche Kunstform. Aber Kunst muss nicht verträglich sein. Trotzdem sind die zitierten Zeilen auch bei wohlwollender Auslegung nicht von der Kunstfreiheit gerechtfertigt. Von definierten Körpern wird in der Bodybuilder-Szene gesprochen, wenn gut ausgeprägte Muskeln nicht von einer Schicht Körperfett versteckt werden.
DAS VERLETZT DIE MENSCHENWÜRDE
13. Farid Bang und Kollegah bringen das in einen Zusammenhang mit Auschwitz, mit den Bildern gequälter und (fast) verhungerter KZ-Häftlinge. Das ist atemberaubend menschenverachtend. Und der Holocaust, das singuläre Menschheitsverbrechen, wird einfach mal so in einer „lyric line“verglichen mit einem Molotowcocktail, den man die Zeile la ligne, la parole / definiert bodybuilding modelé, sculpté / der Auschwitzinsasse le détenu d’Auschwitz / die Grenzen sprengen dépasser les limites. 11. spiegeln refléter / die Gewalt la violence / die Frauenfeindlichkeit la misogynie / prägen marquer / deshalb pour cette raison / gewalttätig violent / geradezu carrément / das Kennzeichen la caractéristique / bis zum Alleräußersten treiben(ie,ie) pousser à l’extrême. 12. besonders particulièrement / schwer verträglich difficilement supportable / die wohlwollende Auslegung l’interprétation bienveillante, indulgente / rechtfertigen justifier / ausgeprägt prononcé, saillant / die Schicht(en) la couche / das Körperfett la graisse / verstecken dissimuler. 13. in einen Zusammenhang mit … bringen mettre en rapport avec … / gequält torturé / verhungert affamé, mort de faim / das KZ = Konzentrationslager le camp de concentration / der Häftling(e) le détenu / atemberaubend stupéfiant / menschenverachtend dégradant / das Menschheitsverbrechen le crime contre l’humanité / vergleichen(i,i) comparer / aus Wut oder Spaß an der Randale wirft? Das verletzt den höchsten Wert, den das Grundgesetz für unsere Gesellschaft definiert: die Menschenwürde.
14. Hier liegt der Kern des Problems, den die Debatte bisher nicht berührt. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist das letzte Tabu, das wir haben. Wenn dieses Tabu fällt, sind wir auf dem Weg zur Barbarei. Wenn die Menschenwürde nicht mehr verteidigt wird, leben wir in einer rohen, menschenverachtenden Gesellschaft. Alle Zivilisation ist dann nur Fassade. Wer – wie Kollegah und Farid Bang – Witzchen und Wortspiele über Auschwitz und den Holocaust macht, verletzt dieses Tabu massiv.
15. Bei aller Freiheit der Kunst: Wir können nicht dulden, dass diese rote Linie der Zivilisation überschritten wird. Die Zivilgesellschaft muss sich wehren. Ein paar wohlfeile aus Wut sous le coup de la colère / aus Spaß pour s’amuser / die Randale la bagarre, l’émeute / verletzen violer / der Wert la valeur / die Menschenwürde la dignité humaine. 14. liegen résider / der Kern le coeur / bisher jusqu’à présent / berühren toucher, aborder / die Unantastbarkeit l’intangibilité / verteidigen défendre / roh brutal / das Witzchen la petite blague / das Wortspiel(e) le jeu de mots. 15. bei malgré / dulden tolérer / überschreiten(i,i) franchir / sich wehren se défendre / ein paar quelques / wohlfeil banal, facile / Distanzierungen per Facebook reichen sicher nicht aus. Sie fördern nur den kommerziellen Erfolg der Rapper. Da müsste noch viel mehr kommen. Und der Staat muss sich wehren mit der ganzen Härte, die dem demokratischen Rechtsstaat zur Verfügung steht – mit dem Strafrecht und mit staatsanwaltlichen Ermittlungen. Nicht jeder Eklat und Skandal ist wichtig. Manchmal ist es gut, wenn es schnell wieder ruhig wird. Hier ist es anders: Immerhin geht es um die Grundlage der Zivilisation und die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. aus-reichen suffire / fördern encourager / die Härte la dureté, la vigueur / der Rechtsstaat l’Etat de droit / jdm zur Verfügung stehen être à la disposition de qqn / das Strafrecht le droit pénal / staatsanwalt(schaft)lich à l’initiative du ministère public / die Ermittlung l’enquête / immerhin tout de même / die Grundlage le fondement.