Krach im Kiez
Religions : la société allemande se retranche-t-elle de plus en plus derrière ses différences ?
Suite à l’agression d’un jeune juif dans les rues de Berlin fin avril, le Conseil central des juifs met en garde les porteurs de kippa. La CSU veut le retour des croix dans les institutions publiques et le débat autour du voile agite toujours les esprits. En Allemagne chaque symbole religieux est revendiqué comme signe d'appartenance à une communauté et ensemble ils appuient sur les divisions de la société…
Adam machte sich zusammen mit einem Freund und der Kippa auf dem Kopf auf den Weg Richtung Helmholtzplatz. Er hatte ihn fast erreicht, als er auf drei arabische junge Männer traf, die begannen, ihn zu beschimpfen. Armoush nahm sein Smartphone, und das Video, das er nun
drehte, ist schon jetzt ein zeitgenössisches Dokument deutscher Geschichte.
2. Einer der Männer, ein 19-Jähriger aus Syrien, schlägt mit seinem Gürtel auf Adam ein. Immer wieder ruft der Syrer: Jehudi, Jehudi. Jude, Jude. Immer wieder holt er aus,
sie ringen miteinander, die Bilder wackeln, die Stimme Adams ist zu hören: „Ich filme dich, ich filme dich.“Irgendwann kommt ein Mann und drängt den Angreifer weg. Adam ruft ihm hinterher: „Du wirst sehen: Jude oder nicht Jude, du musst damit klarkommen.“Keine 50 Sekunden dauert das Video.
47 Sekunden nur, aber schon nach wenigen Stunden am selben Abend entwickelt es seine ungeheure Kraft. 47 Sekunden, die vieles, wenn nicht alles infrage stellen.
3. Denn ist nicht auch Deutschland so etwas wie ein Kiez inmitten dieser globalisierten, aufgeregten Welt? Ein Kiez, in dem sich die Menschen gut eingerichtet haben, weil es hier ein bisschen ruhiger und geordneter zugeht als draußen auf dem Globus, wo die Flüchtlingsströ me dur chdieWü st en und über die Meere ziehen, wo Bomber fliegen, wo Giftgas die Menschen tötet, und wenn das nicht passiert, so bebt doch zumindest die Erde.
4. In Deutschland lebte man in der Hoffnung, dass hierzulande gar nichts mehr bebt, hat eine Kanzlerin gewählt, die seit 2005 darauf achtet, dieses Land fernzuhalten von allen Beben und Stürmen der Weltgeschichte; ein freundliches Land, weltoffen, liberal, sogar bereit, wie im Sommer 2015, fast eine Million Flüchtlinge aufzunehmen. Willkommen im Kiez!
5. Doch nun gibt es Krach in diesem Kiez, was auch damit zu tun hat, dass die Religionen, die in dieser säkularisierten Kiezrepublik namens Deutschland irgendwann eigentlich nur noch Folklore waren, die ein bisschen Lebenshilfe boten oder für Kitaplätze sorgten, dass diese Religionen plötzlich wieder eine mächtige Rolle spielen auf der Welt.
IDENTITÄT DEUTSCHLANDS
6. Und so kommt es, dass, wer darüber reden möchte, was dieses Land heutzutage ausmacht, heute über die Kippa redet, über das Kreuz und über das Kopftuch, auf den ersten Blick Symbole für unterschiedliche Weltreligionen, auf den zweiten Blick Symbole für die Identität dieses Landes – oder zumindest für die Suche nach einer solchen Identität.
7. Zu sagen, was genau diese Identität sein könnte, fällt vielen Deutschen schwer. Die Werte des Grundgesetzes, klar, die gehören dazu, das versteht sich von selbst. Aber darüber hinaus? Ist die Mülltrennung dabei, wie neulich in einem Leitfaden von Pro Asyl für Flüchtlinge stand? Die deutsche Pünktlichkeit, unsere sprichwörtliche Effizienz?
8. Vermutlich können die allermeisten sich darauf einigen, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Nati on alsozia lis mus Te il der deutschen Identität ist. Der Holocaust ist der schwarze Schlund der deutschen Geschichte, diesen nicht länger schamvoll beschwiegen zu haben, sondern zum zentralen Element derEr in ne rungskult urge machtzu ha ben, ist eine Leistung, die das freiheitlich gesinnte Deutschland für sich reklamiert. Gibt es ein Wort, das deutscher ist als das Wort Vergangenheitsbewältigung?
WILLKOMMENSKULTUR HATTE VIELE URSACHEN
9. Wahrscheinlich liegt die verstörende Brisanz dieser 47 Sekunden darin: Weil vor mehr als 70 Jahren Deutschland die Juden in Zügen in den Tod geschickt hatte, holte die Bundesrepublik 2015 syrische Flüchtlinge in Zügen in die Freiheit. Die Willkommenskultur hatte viele Ursachen, sie war auch der Versuch der Nachfahren der NS-Täter, endgültig Buße abzulegen, der Versuch einer Wiedergutmachung, die nun allerdings das produziert, was nicht mehr sein darf, weder in Berlin noch sonst irgendwo in Deutschland: Antisemitismus.
10. Zumal sich in den vergangenen Wochen die Meldungen häuften über einen muslimischen Antisemitismus in Deutschland. An mehreren Berliner Schulen, so erfuhr man, waren jüdische Schüler gemobbt worden. Bei der Verleihung des Echos, des wichtigsten Preises der deutschen Musikindustrie, ebenfalls in Berlin, war es Mitte April zu einem Eklat gekommen, weil die Rapper Kollegah und Farid Bang, die mit antisemitischen Texten provozieren, ausgezeichnet worden waren. Zwei Wochen brauchte es nur, und der wichtigste deutsche Musikpreis schaffte sich selbst ab.
11. Es ist ganz schön kompliziert geworden. Gewissheiten gehen verloren, alte Kämpfe
werden neu aufgeführt. In Bayern, so beschloss es der bayerische Ministerrat unter derFührungv on Mini sterprä si dentSö der, sollen nun im Eingangsbereich eines jeden bayerischen Dienstgebäudes wieder Kreuze hängen. Künftig soll das Kreuz in Bayern einen ähnlichen Status haben wie die weißblauen Flaggen vor den Behördengebäuden.
12. Man könnte es für bloße Folklore halten, wenn Markus Söder das christliche Kreuz nun wieder für eine symbolpolitische Aktion missbraucht. Lederhosen, Maßkrüge, Blasmusik, das Kruzifix, ist doch alles irgendwie bayerisch, was soll’s. Doch Söder bedient sich damit bei der äußeren Rechten, die in ihrem Kampf um das Abendland besonders auch die Insignien und Bräuche der christlichen Kultur einsetzt.
13. Es geht aber um mehr als nur um den rechten Glauben. Kippa, Kreuz und Kopftuch sind die Symbole eines Kulturkampfes um die Identität einer Gesellschaft, die sich in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten ebenso verändert hat wie in Frankreich oder anderen europäischen Ländern. 22,5 Millionen, also mehr als jeder Fünfte hierzulande, hat ausländische Wurzeln, und so ringen wir darum, wer wir sind, wer wir waren und wer wir sein wollen.
KREUZ, KOPFTUCH UND KIPPA FREI ZEIGEN
14. Ist das Kopftuch ein Symbol für Islam? Oder eher eine Projektionsfläche für die Angst vor dem Fremden? Laut einer aktuellen ForsaUmfrage sagt mehr als jeder vierte Deutsche, der Islam sei etwas, „das einem Angst macht“. 2010 meinten sogar 73 Prozent der Deutschen, der Islam passe nicht in die westliche Welt. Horst Seehofer, gerade neuer Bundesinnenminister geworden, erklärte im März in einer seiner ersten Amtshandlungen, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, schon aber die knapp fünf Millionen Muslime, die hier im Land leben. Angela Merkel widersprach ihrem Minister. Die Muslime gehörten zu Deutschland, der Islam aber auch.
15. Was also gehört zu Deutschland? Was ist das, dieses Wir, das uns zusammenhält: Atheisten und Juden, Christen und Muslime, Linke und Rechte, West- und Ostdeutsche, Bayern und Niedersachsen, Großstädter und Dorfbewohner? Und wer entscheidet und aus welchen Gründen darüber, wer alles nicht mitmachen darf: Gehören deutsche Antisemiten zu Deutschland? AfD-Politiker? Gettomachos, die über Frauen nur als Bitches rappen und Frauen mit Kopftuch daten? Muslimische Einwanderer, die auf ihr Recht bestehen, nichts mit dem Holocaust zu tun zu haben? Katholische Fundamentalisten, die auf Anti-Merkel-Demonstrationen „Widerstand, Widerstand“brüllen? Wahrscheinlich muss man all das ertragen. Man kann ja anderer Meinung sein.
16. Das Kreuz, das Kopftuch und die Kippa, sie alle muss man frei zeigen können, jederzeit, wann und wo man will, in welchem Kiez auch immer, auf dem Helmholtzplatz, beim Hip-Hop-Konzert, sogar in der Bayerischen Staatskanzlei. Sie sind Symbole für unsere freiheitliche Demokratie. * Jan Fleischhauer, Jan Friedmann, Lothar Gorris, Sebastian Hammelehle und Jerome Lombard.