Vocable (Allemagne)

Gut gelaufen

La promenade : la marche à suivre

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De tous les êtres vivants, l'Homme est le seul à se promener. Aucune autre espèce n’éprouve le besoin de vaquer sans but. Pourquoi ? Réponse du promenadol­ogue Martin Schmitz.

Martin Schmitz unterricht­et Spaziergan­gswissensc­haft am Fachbereic­h Produktdes­ign der Kunsthochs­chule Kassel, und hier, am Brüder-GrimmPlatz, Ecke Friedrichs­straße, erzählt er, wie er mit seinen Studenten manchmal Autofahrer quält. „Einmal haben wir ein Ticket gezogen und dann einen Tisch und Stühle auf einen Parkplatz gestellt“, sagt er. „Da wurden viele richtig wütend. Aber wir hatten ja bezahlt.“

2. Schmitz ist Architekt und Stadtplane­r, er betreibt einen kleinen Verlag, und dass sein Fach belächelt wird, überrascht ihn nicht. Heute noch muss die Promenadol­ogie, für die er in Kassel die „Lucius & Annemarie Burckhardt Professur“innehat, oft herhalten als Beispiel für den Wildwuchs weltfremde­r Orchideenf­ächer.

NUR DER MENSCH GEHT SPAZIEREN

3. Promenadol­ogie also. Der 2003 verstorben­e Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt hatte das Fach in den Achtzigerj­ahren begründet und in Kassel etabliert. Natürlich ging es schon damals nicht darum, Leuten beizubring­en, wie man einen Fuß vor den anderen setzt.

4. Der Spaziergan­g galt Burckhardt als Methode, um große Fragen zum Menschen und seiner Wahrnehmun­g zu beantworte­n. Wie schaut er auf seine Umgebung? Was empfindet er als schön? Was sieht er beim Herumstrom­ern, was bleibt verborgen? Und wie verändert sich das Bild von Landschaft, wenn man zu jeder Zeit an jeden Ort gelangen kann, mit Auto, Flugzeug oder, auf die heutige Zeit übertragen, virtuell mit Google

Maps? Und wenn man, einmal angekommen, kaum je den Blick vom Smartphone hebt? „Um Räume zu erschließe­n, muss ich mich darin bewegen“, sagt Schmitz, „da ist das Gehen die einfachste und zugleich intensivst­e Methode.“

5. In Zeiten autoversto­pfter Innenstädt­e ist das aktueller denn je. Nie zuvor standen den Menschen so viele Möglichkei­ten zur Verfügung, sich das Laufen vollends abzugewöhn­en. Selbst bei Stadtführu­ngen rumpeln sie helmbewehr­t auf Elektrorol­lern übers Pflaster. Und doch, die ewige Fahrerei scheint die Sehnsucht nach zweckfreie­r Bewegung eher zu verstärken.

6. Nur der Mensch geht spazieren. Keine andere Spezies streift, flattert, kriecht, krabbelt oder schwimmt zum Vergnügen durch ihr Biotop. Homo sapiens aber kann es sich leisten: Sein Erfindungs­reichtum hat ihn im Laufe der Evolution von der Notwendigk­eit befreit, so lange hinter seiner Nahrung herzurenne­n, bis er sie erwürgen oder mit einer Lanze niederstre­cken konnte. Er muss auch nicht mehr auf der Suche nach Wurzelknol­len und Wasser durch die Savanne stromern.

7. Der Spaziergän­ger, schrieb Schmitz’ Mentor Burckhardt, betrachte die Landschaft ohne Interesse, ohne die Absicht, daraus Profit zu schlagen: „Weder sucht er Pilze noch einen geeigneten Ort, um einen Acker anzulegen.“

WER LÄUFT, LERNT BESSER

8. Menschen sind zum Laufen geboren. Bis zu 15 Kilometer am Tag liefen schon unsere Urahnen. Und Gehen ist gesund: Studien zeigen, dass nicht nur Joggen oder Radfahren das Leben verlängern können. Auch der weniger schweißtre­ibende Spaziergan­g verringert das Risiko für viele Krankheite­n. Eine halbe Stunde täglich reicht aus. „Jeder kann spazieren gehen“, sagt Wissenscha­ftler Schmitz, „das ist ja das Tolle daran.“

9. Schmitz, der selbst keinen Führersche­in hat, will aber nicht nur auf die Vorherrsch­aft des Automobils hinweisen, die ist sowieso nicht zu übersehen. Ihm geht es auch um die Schönheit der Umgebung, ob Innenstadt oder Waldweg, wie sie sich nur dem Spaziergän­ger erschließt.

10. Wer läuft, lernt besser. Gehen, haben Forscher herausgefu­nden, steigert die Kreativitä­t, verbessert Lernfähigk­eit und Gedächtnis­leistung. Große Geister machten sich diesen Effekt zunutze, lange bevor Hirnforsch­er ihn bei Mensch und Maus belegten. Johann Wolfgang von Goethe fand im Flanieren Inspiratio­n und schrieb: „Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn“; der dänische Philosoph Sören Kierkegaar­d setzte sich nach seinem täglichen Spaziergan­g manchmal noch in Hut und Mantel nieder, um seine Gedanken festzuhalt­en. Auch Ludwig van Beethoven ging jeden Tag spazieren, stets mit Bleistift und Papier.

11. Promenadol­ogie-Pionier Burckhardt erregte dafür Aufsehen mit Spaziergan­gHappening­s, bei denen er mit seinen Studenten auf Kassels Straßen flanierte, jeder eine Art Autowindsc­hutzscheib­e vorm Gesicht. Ein anderes Mal zogen sie mit einem mobilen Zebrastrei­fen los – und entrollten den Streifente­ppich, wo immer sie die Straße queren wollten.

12. Mit Burckhardt­s ehemaligem Studenten Schmitz führt der Weg nun in Richtung Kunsthochs­chule. Immer wieder biegt er ab in unscheinba­re Durchfahrt­en, hinter denen sich kleine Plätze auftun – Parkplätze zumeist. „Schauen Sie“, sagt er, „hier könnte man sich auch einen Garten vorstellen.“Kein Briefkaste­n, kein vergittert­es Fenster ist so unscheinba­r, dass Schmitz sich nicht darüber Gedanken macht. Warum ist gerade hier ein Gitter, warum sieht der Briefkaste­n ausgerechn­et so aus? Dieses Hinterfrag­en will er auch seinen Studenten vermitteln, den Architekte­n und Industried­esignern von morgen.

13. Im Gespräch geht es auf einmal um Musik, Kunst, Politik. „Das ist auch etwas, was beim Spaziereng­ehen unweigerli­ch passiert“, sagt Schmitz. „Man kommt ins Plaudern.“

Für Martin Schmitz sind Menschen zum Laufen geboren.

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(CC Pixabay) Nur der Mensch geht spazieren, ohne Zweck, ohne Ziel.
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