„Warum gehen nicht irgendwann die Alarmglocken an?“
“Pourquoi la sonnette d’alarme ne se déclenche-t-elle pas à un moment donné ?”
Un scandale de falsification d’articles ébranle la presse allemande
En décembre dernier, un scandale majeur est venu ébranler le paysage médiatique allemand. Le reporter émérite du Spiegel, Claas-Hendrik Relotius, qui avait notamment couvert la guerre en Syrie, a maquillé et largement inventé le contenu de ses articles. A l’ère des fake news, comment garantir la fiabilité des informations ? C’est la question posée par les journalistes du SPIEGEL au rédacteur en chef de l’hebdomadaire DIE ZEIT, Giovanni di Lorenzo.
SPIEGEL: Herr di Lorenzo, Sie sitzen in der Jury des Nannen-Preises. Schauen Sie nach dem Fall Relotius kritischer auf die nominierten Texte, vor allem Reportagen? Giovanni Di Lorenzo: Vielleicht ist es in dieser Ausnahmesituation erlaubt, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Nach meiner Erinnerung waren in den letzten Jahren mindestens zwei Geschichten von Claas Relotius in der Diskussion für die beste Reportage des Jahres. Aber in der Jury gab es Zweifel an den Geschichten.
2. SPIEGEL: Welche Zweifel waren das?
Di Lorenzo: Nicht in dem Sinne, dass es sich um Fälschungen handeln könnte. Aber diese Geschichten waren von einer Glätte, Perfektion und Detailbesessenheit, dass es einige von uns nicht glauben konnten.
3. SPIEGEL: Sie auch nicht?
Di Lorenzo: Auch ich nicht. Daran kann man natürlich die Frage knüpfen: Wenn es uns in der Jury so ging – gab es denn nie irgendeinen Zweifel in der Redaktion? Dass die Geschichten ganz erfunden sein könnten, darauf wäre auch ich im Traum nicht gekommen.
4. SPIEGEL: Was bedeutet der Fall Relotius für die Branche?
Di Lorenzo: Dieser Fall beschädigt das Genre Reportage als Ganzes, insbesondere die Figur des Kriegsreporters, der normalerweise in Gebiete geht, in denen die Herrschenden ein besonderes Interesse daran haben, dass keine Informationen nach außen dringen. Einige wenige Kolleginnen und Kollegen riskieren ihr Leben, um der Welt Zeugnis
Diese Reporter geraten jetzt unter Generalverdacht, weil es kaum möglich ist, ihre Recherchen vollständig nachzuvollziehen. Dass jetzt an der Wahrhaftigkeit von Berichten gezweifelt wird, für die Leute ihr Leben einsetzen, das ist der eigentliche Schaden. Zweitens müssen wir uns jetzt alle die Frage stellen: Ist es in dem Genre der Reportage zu einer Deformation gekommen, die alle Häuser betrifft?
5. SPIEGEL: Das Entsetzen unter den Kollegen ist groß, bei manchem auch die Wut. Die allermeisten arbeiten sauber und gewissenhaft. Und sie wehren sich dagegen, dass jetzt alle Reporter unter Generalverdacht gestellt werden.
Di Lorenzo: Das verstehe ich voll und ganz und finde es auch unzulässig, aber das ist nun mal leider der Kollateralschaden. Deshalb betrifft der Fall ja uns alle. Aber es ist doch interessant, sich das Systemische daran anzusehen: Die Geschichten von Relotius waren von einer solchen Perfektion! Ein Kollege aus unserem Ressort Dossier hat heute gesagt, und das ohne jede Häme: Er sei beinahe erleichtert, weil er jetzt eine Erklärung dafür habe, warum wir an solche Geschichten nie herangekommen sind. Relotius habe in jeder Situation den Elfmeter verwandelt, nur gab es – wie wir jetzt wissen – den Elferpunkt nicht.
6. SPIEGEL: Im Fall Relotius waren nicht bloß die Geschichten erfunden, sondern auch die Inszenierung der Recherche. Er hat immer wieder selbst gesagt, wo es geruckelt habe, was alles nicht funktioniert habe, dass er nicht weiterkomme, an Protagonisten nicht herankomme. Auch die eigene Imperfektion, so sagt es ein Kollege, habe er perfekt inszeniert.
Di Lorenzo: Sie schreiben von einer hohen kriminellen Energie des Kollegen, die ist mit Sicherheit da, und ich will Relotius’ Verantabzulegen.
wortung nicht schmälern. Fehlverhalten ist immer auch etwas sehr Individuelles. Aber: Wenn ich beim SPIEGEL wäre, würde mir das nicht reichen. Ich habe heute Morgen unseren preisgekrönten Kriegsreporter Wolfgang Bauer angerufen und habe ihn gefragt: Wenn Sie uns bescheißen wollten, hätten wir eine Chance, das zu merken? Seine Antwort war interessant: Natürlich nicht alles. Wenn man in Nigeria, Nordkorea oder dem
Irak unterwegs ist, lässt sich vieles nicht rekonstruieren. Aber er hat selber erfahren, dass es Kontrollmechanismen gibt, die auch an Reporter erhebliche Anforderungen stellen. Die Kollegen von „Geo“etwa hätten sich von ihm Namen und Telefonnummern von Ansprechpartnern geben lassen. Das wirkt erst mal wie eine Misstrauenserklärung, hat aber eine gewisse Schlüssigkeit.
7. SPIEGEL: Über diese Maßnahmen wird gerade debattiert, die Dokumentationspflichten der Redakteure müssen steigen, die die Recherchen belegen, auch die Recherche im Team, mit Übersetzern und Fotografen. Aber die SPIEGEL-Dokumentation ist darauf angelegt, Fehler zu finden, nicht darauf, Betrüger zu überführen. Di Lorenzo: Die „Bild“-Zeitung, einer Ihrer größten Widersacher, schreibt heute, was ich auch nicht wusste, dass Ihre Dokumentation vermerkt, wo etwas nicht belegt werden kann. Das muss doch bei Relotius-Geschichten nur so von Vermerken gewimmelt haben. Das frage ich jetzt als beruflich interessierter Laie: Warum gehen dann nicht irgendwann mal die Alarmglocken an? Ich habe wirklich keinen Grund, jetzt selbstgerecht auf Sie zu schauen, aber die Frage müssen Sie schon erlauben.
“Bei einigen Arbeiten, frage ich mich: Ist das noch Journalismus oder schon ein Roman?” Di Lorenzo
8. SPIEGEL: Manche Kollegen, auch bei uns, meinen, die Reportage habe sich zu sehr vom allgemeinen Journalismus wegbewegt in Richtung Literatur. Ist es das, was Sie anfangs mit Deformation meinten?
Di Lorenzo: Auch. Bei einigen Arbeiten, die für den Nannen-Preis eingereicht werden, frage ich mich: Ist das noch Journalismus oder schon ein Roman?
9. SPIEGEL: Wo sehen Sie da ein Problem?
Di Lorenzo: Die sprachlichen Standards von Literatur sind anders, die kompositorischen, die dramaturgischen – ein normaler Reporter kommt da nicht mit. Der hat schnell das Gefühl, er schreibt eine wahnsinnig fade Geschichte. 10. SPIEGEL: Über diesen Kult der schön geschriebenen Reportage würden wir gern noch mal reden. Wie konnte dieser Reporterkult entstehen?
Di Lorenzo: Wir sind heute in einer anderen Konkurrenzsituation als noch vor zwanzig Jahren. Wir haben die Konkurrenz durch die Onlinemedien, wir haben das Fernsehen und eine Konkurrenzlage untereinander. Da sind manche Geschichten wie Drogen, weil sie so wahnsinnig schön geschrieben sind. Allein diese eine Geschichte reicht mir, um ein Abo für ein Jahr zu rechtfertigen. Und ich finde, die Mehrzahl der Reporter schreibt solche Geschichten, und sie stimmen, sie sind wahrhaftig und tatsächlich großartig – gerade bei Ihnen. Aber das ist die Kehrseite der Medaille, darüber reden wir gerade.