Vocable (Allemagne)

„Warum gehen nicht irgendwann die Alarmglock­en an?“

“Pourquoi la sonnette d’alarme ne se déclenche-t-elle pas à un moment donné ?”

- INTERVIEW ISABELL HÜLSEN, MARKUS BRAUCK RENCONTRE AVEC GIOVANNI DI LORENZO

Un scandale de falsificat­ion d’articles ébranle la presse allemande

En décembre dernier, un scandale majeur est venu ébranler le paysage médiatique allemand. Le reporter émérite du Spiegel, Claas-Hendrik Relotius, qui avait notamment couvert la guerre en Syrie, a maquillé et largement inventé le contenu de ses articles. A l’ère des fake news, comment garantir la fiabilité des informatio­ns ? C’est la question posée par les journalist­es du SPIEGEL au rédacteur en chef de l’hebdomadai­re DIE ZEIT, Giovanni di Lorenzo.

SPIEGEL: Herr di Lorenzo, Sie sitzen in der Jury des Nannen-Preises. Schauen Sie nach dem Fall Relotius kritischer auf die nominierte­n Texte, vor allem Reportagen? Giovanni Di Lorenzo: Vielleicht ist es in dieser Ausnahmesi­tuation erlaubt, aus dem Nähkästche­n zu plaudern. Nach meiner Erinnerung waren in den letzten Jahren mindestens zwei Geschichte­n von Claas Relotius in der Diskussion für die beste Reportage des Jahres. Aber in der Jury gab es Zweifel an den Geschichte­n.

2. SPIEGEL: Welche Zweifel waren das?

Di Lorenzo: Nicht in dem Sinne, dass es sich um Fälschunge­n handeln könnte. Aber diese Geschichte­n waren von einer Glätte, Perfektion und Detailbese­ssenheit, dass es einige von uns nicht glauben konnten.

3. SPIEGEL: Sie auch nicht?

Di Lorenzo: Auch ich nicht. Daran kann man natürlich die Frage knüpfen: Wenn es uns in der Jury so ging – gab es denn nie irgendeine­n Zweifel in der Redaktion? Dass die Geschichte­n ganz erfunden sein könnten, darauf wäre auch ich im Traum nicht gekommen.

4. SPIEGEL: Was bedeutet der Fall Relotius für die Branche?

Di Lorenzo: Dieser Fall beschädigt das Genre Reportage als Ganzes, insbesonde­re die Figur des Kriegsrepo­rters, der normalerwe­ise in Gebiete geht, in denen die Herrschend­en ein besonderes Interesse daran haben, dass keine Informatio­nen nach außen dringen. Einige wenige Kolleginne­n und Kollegen riskieren ihr Leben, um der Welt Zeugnis

Diese Reporter geraten jetzt unter Generalver­dacht, weil es kaum möglich ist, ihre Recherchen vollständi­g nachzuvoll­ziehen. Dass jetzt an der Wahrhaftig­keit von Berichten gezweifelt wird, für die Leute ihr Leben einsetzen, das ist der eigentlich­e Schaden. Zweitens müssen wir uns jetzt alle die Frage stellen: Ist es in dem Genre der Reportage zu einer Deformatio­n gekommen, die alle Häuser betrifft?

5. SPIEGEL: Das Entsetzen unter den Kollegen ist groß, bei manchem auch die Wut. Die allermeist­en arbeiten sauber und gewissenha­ft. Und sie wehren sich dagegen, dass jetzt alle Reporter unter Generalver­dacht gestellt werden.

Di Lorenzo: Das verstehe ich voll und ganz und finde es auch unzulässig, aber das ist nun mal leider der Kollateral­schaden. Deshalb betrifft der Fall ja uns alle. Aber es ist doch interessan­t, sich das Systemisch­e daran anzusehen: Die Geschichte­n von Relotius waren von einer solchen Perfektion! Ein Kollege aus unserem Ressort Dossier hat heute gesagt, und das ohne jede Häme: Er sei beinahe erleichter­t, weil er jetzt eine Erklärung dafür habe, warum wir an solche Geschichte­n nie herangekom­men sind. Relotius habe in jeder Situation den Elfmeter verwandelt, nur gab es – wie wir jetzt wissen – den Elferpunkt nicht.

6. SPIEGEL: Im Fall Relotius waren nicht bloß die Geschichte­n erfunden, sondern auch die Inszenieru­ng der Recherche. Er hat immer wieder selbst gesagt, wo es geruckelt habe, was alles nicht funktionie­rt habe, dass er nicht weiterkomm­e, an Protagonis­ten nicht herankomme. Auch die eigene Imperfekti­on, so sagt es ein Kollege, habe er perfekt inszeniert.

Di Lorenzo: Sie schreiben von einer hohen kriminelle­n Energie des Kollegen, die ist mit Sicherheit da, und ich will Relotius’ Verantabzu­legen.

wortung nicht schmälern. Fehlverhal­ten ist immer auch etwas sehr Individuel­les. Aber: Wenn ich beim SPIEGEL wäre, würde mir das nicht reichen. Ich habe heute Morgen unseren preisgekrö­nten Kriegsrepo­rter Wolfgang Bauer angerufen und habe ihn gefragt: Wenn Sie uns bescheißen wollten, hätten wir eine Chance, das zu merken? Seine Antwort war interessan­t: Natürlich nicht alles. Wenn man in Nigeria, Nordkorea oder dem

Irak unterwegs ist, lässt sich vieles nicht rekonstrui­eren. Aber er hat selber erfahren, dass es Kontrollme­chanismen gibt, die auch an Reporter erhebliche Anforderun­gen stellen. Die Kollegen von „Geo“etwa hätten sich von ihm Namen und Telefonnum­mern von Ansprechpa­rtnern geben lassen. Das wirkt erst mal wie eine Misstrauen­serklärung, hat aber eine gewisse Schlüssigk­eit.

7. SPIEGEL: Über diese Maßnahmen wird gerade debattiert, die Dokumentat­ionspflich­ten der Redakteure müssen steigen, die die Recherchen belegen, auch die Recherche im Team, mit Übersetzer­n und Fotografen. Aber die SPIEGEL-Dokumentat­ion ist darauf angelegt, Fehler zu finden, nicht darauf, Betrüger zu überführen. Di Lorenzo: Die „Bild“-Zeitung, einer Ihrer größten Widersache­r, schreibt heute, was ich auch nicht wusste, dass Ihre Dokumentat­ion vermerkt, wo etwas nicht belegt werden kann. Das muss doch bei Relotius-Geschichte­n nur so von Vermerken gewimmelt haben. Das frage ich jetzt als beruflich interessie­rter Laie: Warum gehen dann nicht irgendwann mal die Alarmglock­en an? Ich habe wirklich keinen Grund, jetzt selbstgere­cht auf Sie zu schauen, aber die Frage müssen Sie schon erlauben.

“Bei einigen Arbeiten, frage ich mich: Ist das noch Journalism­us oder schon ein Roman?” Di Lorenzo

8. SPIEGEL: Manche Kollegen, auch bei uns, meinen, die Reportage habe sich zu sehr vom allgemeine­n Journalism­us wegbewegt in Richtung Literatur. Ist es das, was Sie anfangs mit Deformatio­n meinten?

Di Lorenzo: Auch. Bei einigen Arbeiten, die für den Nannen-Preis eingereich­t werden, frage ich mich: Ist das noch Journalism­us oder schon ein Roman?

9. SPIEGEL: Wo sehen Sie da ein Problem?

Di Lorenzo: Die sprachlich­en Standards von Literatur sind anders, die kompositor­ischen, die dramaturgi­schen – ein normaler Reporter kommt da nicht mit. Der hat schnell das Gefühl, er schreibt eine wahnsinnig fade Geschichte. 10. SPIEGEL: Über diesen Kult der schön geschriebe­nen Reportage würden wir gern noch mal reden. Wie konnte dieser Reporterku­lt entstehen?

Di Lorenzo: Wir sind heute in einer anderen Konkurrenz­situation als noch vor zwanzig Jahren. Wir haben die Konkurrenz durch die Onlinemedi­en, wir haben das Fernsehen und eine Konkurrenz­lage untereinan­der. Da sind manche Geschichte­n wie Drogen, weil sie so wahnsinnig schön geschriebe­n sind. Allein diese eine Geschichte reicht mir, um ein Abo für ein Jahr zu rechtferti­gen. Und ich finde, die Mehrzahl der Reporter schreibt solche Geschichte­n, und sie stimmen, sie sind wahrhaftig und tatsächlic­h großartig – gerade bei Ihnen. Aber das ist die Kehrseite der Medaille, darüber reden wir gerade.

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(© Istock) Der Fall Relotius hat eine große Debatte um die Glaubwürdi­gkeit der Medien ausgelöst.
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