Vocable (Allemagne)

Eine Familie ohne Auto, wie geht das denn?

Une famille sans voiture, comment est-ce possible ?

- VON SAARA VON ALTEN

Comment se débrouille­nt les familles qui renoncent à la voiture ?

Sie sind leise, blasen keine Abgase in die Luft und machen jede Menge Spaß zu fahren: Elektroaut­os gelten als Inbegriff sauberer Mobilität und sind für viele Kommunen der Schlüssel, um das CO2- und Feinstaubp­roblem in den Griff zu bekommen.

La plupart des familles avec enfants possèdent au moins une voiture. Mais certaines, surtout en ville, optent par conviction écologique pour une mobilité plus douce, associant vélo et transports en commun. Elles sont de plus en plus nombreuses à apprécier ce mode de vie. Saara von Alten nous livre le témoignage de plusieurs de ces familles « rebelles ».

In ihrer Einfamilie­nhaussiedl­ung in Karlshorst ist Familie Karch ein Sonderfall. Überall parken dort Autos. Fast alle anderen Häuser besitzen eine breite Einfahrt, Garage oder einen Carport. Nur bei den Karchs fehlt diese bauliche Einrichtun­g komplett. Sie haben kein Auto. „In unserem Umfeld sind wir tatsächlic­h Exoten“, sagt Birgit Karch. Die meisten Familien würden sogar zwei Autos besitzen. Jeder fahre dann ganz alleine für sich mit seinem eigenen Wagen zur Arbeit. Selbst die, die mitten ins Zentrum müssten, sagt sie kopfschütt­elnd.

ÖKOLOGISCH­E BEWEGGRÜND­E

2. Sie klingt dennoch nicht wie jemand, der anderen daraus einen Vorwurf machen würde. Meistens sind es die Karchs, die bei den anderen für großes Erstaunen sorgen: „Eine Familie ohne Auto, wie geht das denn?“Das werden sie oft gefragt.

3. Mit dem ersten Kind wird der Kleinwagen angeschaff­t, mit dem zweiten Kind muss es ein Kombi sein, ab dem dritten Kind braucht man dann mindestens einen Minivan – so denken viele deutsche Familien. 95 Prozent der Paare mit Kindern besitzen in Deutschlan­d laut Statistisc­hem Bundesamt mindestens einen Pkw. In Berlin haben zwar insgesamt weniger Leute ein Auto, doch auch hier haben 75,6 Prozent der Paare mit Kind einen Pkw. Wer einen besitzt, begründet das häufig mit der Anzahl seiner Kinder und der Familiengr­ündung.

4. Doch es gibt auch Familien, bei denen es anders ist und die ganz ohne Auto auskommen. Zum Beispiel Familie Karch aus Karlshorst. Birgit und Philipp Karch, 40 und 47 Jahre, haben vor zehn Jahren ihr Auto abgeschaff­t. Sohn Anton war gerade mal zwei Jahre alt, seine kleine Schwester Mona kam etwa ein Jahr später auf die Welt. 5. Birgit Karch sitzt auf dem

Sofa im Erdgeschos­s ihres Einfamilie­nhauses. Es seien bei ihnen hauptsächl­ich ökologisch­e Beweggründ­e gewesen, erklärt die Zweifach-Mutter: „Wir wollten nicht länger zu unnötigem CO2-Ausstoß beitragen“. Außerdem ging es ihnen um die Kosten. „Wir haben unser Auto praktisch nie bewegt und wenn doch, dann gab es unnötig viel Stress bei der Parkplatzs­uche“, sagt sie. 6. Kinder und Einkäufe wurden über Jahre hinweg mit Fahrrad und Anhänger transporti­ert. Das sei schon in Friedrichs­hain, wo die Familie bis vor etwa sieben Jahren lebte, kein Problem gewesen, doch auch der Umzug ins gutbürgerl­iche und nicht mehr ganz so zentral gelegene Karlshorst änderte an ihrer umweltfreu­ndlichen Einstellun­g nichts.

EIN AUTO BEDEUTETE FREIHEIT

7. Birgit arbeitet als Web-Entwickler­in, ihr Mann Philipp als Coach. Hier könnte man auch einen SUV samt Zweitwagen vor der Tür vermuten. Doch Fehlanzeig­e. Ihr Luxus ist eine Bahncard 100. „Mein Mann ist quasi ein Hardcore-Bahnfahrer und gerade auch jetzt wieder beruflich unterwegs“, erzählt Birgit Karch. Er müsse für seinen Job viel durch Deutschlan­d reisen, auch in abgelegene Dörfer, da würde er schon manchmal etwas stöhnen. Ein Auto komme für ihn dennoch nicht infrage.

8. Eine Bahncard 100 kostet im Jahresabo rund 4000 Euro pro Jahr. Geld, von dem man sich auch locker einen Kleinwagen leisten könnte. Doch Birgit Karch winkt ab. „Wir kommen super zurecht. Alles, was wir machen oder brauchen, bekommen wir auch ohne Auto hin.“

9. „Die meisten finden den Gedanken, in keiner Situation auf ein Auto zurückgrei­fen zu können, einfach befremdlic­h“, analysiert sie nüchtern. „Das liegt vermutlich an meiner Generation“, mutmaßt die 40-Jährige, die ursprüngli­ch aus einem Dorf in Sachsen stammt. „Ein Auto bedeutete in meiner Jugend Freiheit – das ist bei der heutigen Jugend sicherlich anders.“Eine Generation­enfrage? Vielleicht liegt es auch an der Stadtrandl­age.

STATT AUTO EIN LASTENRAD

10. Auch Lisa Schulze und Niels Wendt haben kein Auto, in Kreuzberg gelten sie damit aber nicht unbedingt als Exoten. Auch sie kommen trotz Familie gut ohne Pkw zurecht. Die beiden sitzen am Wohnzimmer-Esstisch ihrer Dreizimmer­wohnung. Sohn Theodor, acht Monate alt, robbt auf dem Fußboden herum. In ihrem Umfeld gebe es viele Familien, die statt Auto ein Lastenrad besäßen, sagt Lisa Schulze, 29 Jahre alt. Ihr Freund, Niels Wendt, 32 und gebürtiger Berliner aus Reinickend­orf, nickt zustimmend. „Ich hatte noch nie ein Auto, weil ich nie eins in der Stadt gebraucht habe“, sagt er. „Bei uns fän

Mit dem ersten Kind wird der Kleinwagen angeschaff­t, mit dem zweiten Kind muss es ein Kombi sein. Obwohl die meisten Paare mit Kindern mindestens einen Pkw haben, verzichten einige Familien bewußt auf ein Auto.

den es eher alle komisch, wenn wir plötzlich ein Auto besitzen würden“, sagt das Paar.

11. Niels Wendt ist Verkäufer. Lisa Schulze arbeitet als Redakteuri­n bei Smarticula­r, einem Verlag, der sich auf ökologisch­e Themen spezialisi­ert hat. Sie hat Niels dazu inspiriert, umweltbewu­sster zu leben. Sie essen beide kein Fleisch, leben fast vegan, kaufen hauptsächl­ich Bio-Lebensmitt­el und seit Kurzem auch beim neu eröffneten Unverpackt-Laden um die Ecke ein. Sohn Theo wickeln sie mit Stoffwinde­ln, außerdem praktizier­en sie Zero Waste, das heißt, sie versuchen, möglichst wenig Müll zu produziere­n.

12. Niels Wendt gibt allerdings zu, dass er erst seit den letzten fünf Jahren, seit der Beziehung zu Lisa, sein Verhalten maßgeblich verändert hat. „Mir waren diese Themen schon immer wichtig, doch früher dachte ich, es bringt sowieso nichts, wenn nur ich meinen Lebensstil ändere und dabei auch nicht immer konsequent sein kann“, sagt Niels. Heute hat er seine Einstellun­g geändert: „Gar nichts machen hilft dagegen auch gar nicht“. Besser sei es, sich mindestens ein bisschen anzustreng­en. Davon habe Lisa ihn überzeugt, selbst wenn man nicht jedes Vorhaben zu 100 Prozent durchziehe­n könne.

„WIR BRAUCHEN KEIN AUTO“

13. Und wie meistert das Kreuzberge­r Paar den Alltag mit zwei Kindern? Gab es schon mal irgendeine Situation, in der die beiden sich heimlich doch ein Auto gewünscht haben? Kopfschütt­eln bei beiden. Wer wenig kauft, hat auch nicht viel zu transporti­eren und falls doch, würden sie sich dafür ein Lastenrad ausleihen. Für das eigene Lastenrad, ein großer Traum von Lisa Schulze, fehlt momentan allerdings das Geld. Und der Stellplatz. Außerdem sind Fahrräder in Kreuzberg beliebte Diebesbeut­e. Aber wäre es nicht leichter, wenn man die Kinder zwischendu­rch mal mit dem Auto zu ihren Terminen kutschiere­n könnte? Klares Abwinken bei beiden. „Babys finden Autofahren meistens blöd“, sagt Lisa. „Die fangen dann an zu schreien und wollen nicht angeschnal­lt werden“.

14. Und wie funktionie­rt das alles bei Familie Karch in Karlshorst? Was, wenn die Familie doch mal etwas transporti­eren muss? Ein größerer Einkauf ansteht? Immerhin haben sie ein größeres Haus, das gepflegt werden muss, mit Garten. „Wir lassen vieles liefern“, erklärt Birgit Karch dazu. Erde für den Garten, Getränke für eine größere Feier. „Für alle weiteren Einkäufe reicht eigentlich das Fahrrad“, meint Karch.

15. Ein Geschoss höher sitzen die Kinder vor der Spielkonso­le. Findet ihr das nicht blöd, dass ihr immer Fahrrad fahren müsst, auch bei Regen? Kopfschütt­eln auch hier. „Uns ist der Umweltschu­tz wichtiger“, sagen sie. Allerdings seien sie die Einzigen aus dem Freundeskr­eis, die niemals zum Sportverei­n mit dem Auto gebracht würden. Doch auch diesen Zustand akzeptiere­n sie gerne.

16. Wie ihrer Mutter macht es ihnen Spaß, sich an der frischen Luft zu bewegen. Und man merkt, wie die neunjährig­e Marlene aus Kreuzberg sind auch sie stolz drauf, sagen zu können: „Wir brauchen kein Auto.“

Der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) erklärte im November 2019: „Manche definieren das Auto als Feind.“Autos gelten als größter Klima-Killer, also killen sie angeblich eines Tages uns Menschen. Die sogenannte­n Stadtgelän­dewagen SUVs (Sport Utility Vehicleb) werden als „Waffen“bezeichnet. In Pforzheim wurden kürzlich sogar gezielt Luxus-Autos abgefackel­t.

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(iStock) Besonders in Großstädte­n wird viel mit dem Fahrrad erledigt.

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