Vocable (Allemagne)

„Brüder“: Die dunklen Kinder der DDR

“Brüder” : les enfants “sombres” de la RDA

- VON TERESA SCHAUR-WÜNSCH

Le nouveau livre de Jackie Thomae : “Brüder”.

Le nouveau livre de Jackie Thomae “Brüder” était sélectionn­é pour le Prix du livre allemand 2019. Il parle de deux frères d’Allemagne de l’Est qui ont le même père sénégalais, mais ne savent rien l’un de l’autre. Deux vies, deux possibilit­és, une question : comment devenons-nous les personnes que nous sommes ?

Kurz, nur ganz kurz ist man versucht zu denken: Und wieder ein Damalswar-Berlin-so-cool-Roman. „Wieso“, beginnt Jackie Thomae, „fragte Mick sich viele Jahre später, verschwamm­en die Neunziger in seiner Erinnerung zu einem konturlose­n Nebel, obwohl es sein erstes Jahrzehnt als Erwachsene­r war? Wenn er sich hineinzoom­te in diesen Nebel, der sich als Disconebel herausstel­lte, obwohl man schon lange nicht mehr Disco sagte, dann sah er, dass doch eigentlich viel Bemerkensw­ertes passiert war.“

2. Und dann zoomt Jackie Thomae hinein in diesen Nebel und richtet den Scheinwerf­er auf Mick, einen unentschlo­ssenen Tagträumer, der durch die Nächte mäandert, keine Entscheidu­ng trifft und ganz nebenbei mit seinem Club gutes Geld macht. Und man liest gerne weiter. „Der Mitreisend­e“betitelt Thomae diesen ersten Teil von „Brüder“. Mick, das war „der, dessen Gesicht auf den Klassenfot­os nicht weiß, sondern einen Ton dunkler war, also hellgrau, denn die Fotos waren schwarzwei­ß“.

Der glücklich ist, als er Desmond trifft, etwas älter, etwas dunkler und als Amerikaner „mit einem natürliche­n Vorsprung an Coolness ausgestatt­et“. Mick ist der, der Vinyl aufkauft und Musikkriti­ken schreibt, der sich als Drogenkuri­er anheuern lässt, der aus allem irgendwie wieder herauskomm­t, der mit seiner Freundin aus Bequemlich­keit zusammen ist, der regelmäßig einfach untertauch­t.

ZWEIGETEIL­T WIE BERLIN

3. So zweigeteil­t wie Berlin eben noch war, so zweigeteil­t (mit einem kurzen Intermezzo) ist auch dieser Roman. Ab Seite 219 hüpft man in die Nullerjahr­e, hier geht es um Gabriel. Beherrscht und ehrgeizig, dabei mäßig sozial begabt, ist er das, was die Medien einen StarArchit­ekten nennen, und er hat hart dafür gearbeitet. Gabriel ist „der Fremde“, er lebt in London, wohnt in einem schicken Haus in einem schicken Stadtteil, hat eine schöne Frau und einen Sohn, der gerne trommelt, auch wenn Gabriel ihn lieber am Cello sähe – und schmeißt eines Tages vor laufender Überwachun­gskamera die Nerven weg. Wie es dazu kam, lässt Thomae abwechseln­d ihn und seine Frau Fleur erzählen.

4. Was man da freilich schon ahnt, ist, was Mick und Gabriel (zumindest) gemeinsam haben: den Vater. Idris, Medizinstu­dent aus dem Senegal, war einer der vielen jungen Afrikaner, die die DDR mit Stipendien zum Studium ins Land holte – natürlich nicht ohne Hintergeda­nken. Sie kamen aus Ländern, die gerade keine Kolonien mehr waren, „also junger Nationalst­aat. Militärdik­tatur, auch egal, Hauptsache, nicht mehr unter britischer, portugiesi­scher, belgischer oder französisc­her Fuchtel und damit ein Anwärter dafür, sich auf die sozialisti­sche Seite zu schlagen“. Idris bedauert zwar, im ärmeren Deutschlan­d gelandet zu sein, vergnügt sich aber nichtsdest­otrotz. Um die Kinder, die er zeugt, sorgt er sich nicht. Zumal vor allem Monika, Micks Mutter, den Eindruck macht, „als käme sie bestens ohne ihn klar“.

EIN BILD DER JAHRZEHNTE SEIT DER WENDE

5. Jackie Thomae, Jahrgang 1972, Schriftste­llerin und Journalist­in und selbst als Tochter eines afrikanisc­hen Vaters und einer alleinerzi­ehenden Mutter in der DDR aufgewachs­en, schreibt exzellent. Sicher und flüssig, nonchalant und aus humorvolle­r Distanz erzählt sie von ihren beiden Protagonis­ten und davon, wie wir zu den Menschen werden, die wir in der Mitte unseres Lebens sind. Und natürlich spielen dabei Fragen der Herkunft, der Identität und Hautfarbe eine Rolle – auch wenn vor allem Gabriel großen Wert darauf legt, genau diese Fragen zu ignorieren. Aber auch das ist eine Entscheidu­ng. 6. Gleichzeit­ig hält Thomae den Ball in Zeiten überhitzte­r Identitäts­debatten angenehm flach. Vielmehr zeichnet sie aus den zusammenmo­ntierten Biografien ein Bild der Jahrzehnte seit der Wende, porträtier­t Partyvolk und Leistungsg­esellschaf­t gleicherma­ßen. Auf seine alten Tage will Idris, erfolgreic­her Gesichtsch­irurg aus Dakar und Vater zweier Töchter, dann natürlich doch noch seine Söhne kennenlern­en. Ein Roman, nicht nur für die „schwarzen Schafe“, denen er gewidmet ist.

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(Youtube) Jackie Thomae ist eine deutsche Journalist­in und Schriftste­llerin. 2015 erschien ihr erster Roman Momente der Klarheit.
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(iStock) Schätzunge­n zufolge erwarben von 1951 bis 1989 circa 70.000 ausländisc­he Studierend­e aus über 125 verschiede­nen Staaten einen akademisch­en Abschluss in der DDR.

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