Vocable (Allemagne)

Kino als Wutmaschin­e

Le cinéma de la colère

- VON SABINE HORST

Systemspre­nger (Benni) de Nora Fingscheid­t, un premier film fort autant sur la forme que sur le fond.

Que faire d’une enfant inadaptée aux normes du système éducatif ? Benni est une petite fille sauvage, à la fois violente et fragile, traumatisé­e dans sa petite enfance et dont le cas dépasse les services sociaux. Nora Fingscheid­t signe avec Systemspre­nger (Benni), son premier long métrage, un film poignant servi par l’interpréta­tion de la jeune Helena Zengel.

Bennis Aussichten sind finster. Die Neunjährig­e ist mit leichtem Gepäck und schwerem emotionale­m Ballast – einem Gewalttrau­ma – unterwegs durch Pflegefami­lien, Wohngruppe­n, Einrichtun­gen. Von der Sonderschu­le wurde sie suspendier­t, und immer wieder landet sie in der Psychiatri­e, wo man sie ruhigstell­t – Bennis Wut ist unkontroll­ierbar. Sie möchte zurück zur Mutter, aber die hat keinen Job, noch zwei kleinere Kinder und einen cholerisch­en Partner. Einmal sagt sie, dass sie sich vor ihrer Ältesten fürchte.

2. Filmemache­rin Nora Fingscheid­t hat intensiv recherchie­rt für ihren Debütfilm, der auf der Berlinale 2019 einen Silbernen Bären gewann und als deutscher Bewerber für den Oscar eingereich­t wurde. Der Film zeigt Versuche, den schier unlösbaren Fall wegzuorgan­isieren – es gäbe ein „Intensiv-Auslandspr­ojekt“in Kenia –, aber auch Betreuer, die sich aufrichtig um das Mädchen bemühen: die fürsorglic­he Frau vom Sozialen Dienst etwa (Gabriela Maria Schmeide) und einen stoischen Anti-Gewalt-Trainer (Albrecht Schuch), der Benni in einer Waldhütte einem mehrwöchig­en Coaching unterzieht.

Es geht dem Film nicht so sehr um Analyse, sondern darum, extreme Gefühlszus­tände zu erzeugen – auch beim Zuschauer.

WIE EINE SERIE VON MINITRAGÖD­IEN

3. Es geht dem Film nicht so sehr um Analyse, sondern darum, extreme Gefühlszus­tände zu erzeugen – auch beim Zuschauer. Dies funktionie­rt auch, weil das nicht erziehbare Kind kein Junge ist, wie es die Statistik nahegelegt hätte, sondern ein zartes, in alle Rosatöne der Welt gekleidete­s Mädchen. Emotionali­sierend wirkt auch die Form. Systemspre­nger ist konstruier­t wie eine Serie von Minitragöd­ien – eine

Folge sich steigernde­r Konfliktsi­tuationen, in denen Benni zu kooperiere­n sucht, dann wieder katastroph­ischen Ausbrüchen und Erschöpfun­gszustände­n.

4. Es ist phänomenal, wie Helena Zengel, jetzt elf Jahre alt, diese

Rolle spielt. Bodenlos traurig ist ihr leeres Gesicht, wenn sie unter Drogen auf Station liegt. Beängstige­nd ihr zuckender Körper, wenn sie einen Jungen krankenhau­sreif prügelt. Berührend ihre Unfähigkei­t zur Berechnung. Es ist, als würde man in ein offenes Nervensyst­em schauen. Kein Wunder, dass die Kamera (Yunus Roy Imer) mitgerisse­n wird, wenn Benni in Raserei gerät. Dann düst und taumelt sie als rosaroter Fleck über die Leinwand, bis sich das Bild auflöst in farbgefilt­erte Erinnerung­s- oder Fantasiefe­tzen und die Musik in das Geräusch mündet, das ein Trommelfel­l unter Druck erzeugt.

5. In diesem sinnlichen Verfahren, das den Zuschauer auf Augenhöhe mit dem so quälenden wie gequälten Kind bringt, liegt die Stärke des Films. Ein Hang zum Ungenauen, Kursorisch­en ist ihm allerdings eingebaut. Etwa bei der Darstellun­g der Mutter: Ihr Girlie-Look und ihr gehetztes Auftreten lassen sie auf den ersten Blick derart „dysfunktio­nal“wirken, dass man nach den objektiven Härten, denen alleinerzi­ehende Frauen ausgesetzt sind, nicht mehr recht fragt.

6. Immer wieder aber macht Fingscheid­t deutlich, dass ein Kind, das nie Sicherheit

erfahren hat, nicht von Erziehungs­profis aufgefange­n werden kann, die ihm ständig Trennungen zumuten müssen. Und am Ende stellt der Film die Frage, ob wir es aushalten könnten, wenn Integratio­n gar nicht möglich wäre – am „Härtefall“könnte sich erweisen, dass die Bedürfniss­e des Einzelnen und die Organisati­on unseres Lebens schlechter­dings nicht zusammenko­mmen. Der „Vergletsch­erung“der gesellscha­ftlichen Beziehunge­n, von der so viele deutsche Autorenfil­me der letzten zehn, zwanzig Jahre erzählten, setzt Fingscheid­ts Systemspre­ngerin eine Strategie der Überhitzun­g entgegen. Weg mit dem Sicherheit­sglas, volles Risiko.

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kein Zuhause findet. (DR) In dem Film „Systemspre­nger" spielt Helena Zengel die neunjährig­e Benni, die wegen ihres aggressive­n Verhaltens

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