Vocable (Allemagne)

SCHLAFEN WIE GOTT IN BRANDENBUR­G

Dormir au paradis

- VON NADJA BOSSMANN

Passer ses vacances dans une église, travailler dans un silence monacal, faire une pause à la campagne. L’église transformé­e de Havelsee dans le Brandebour­g permet tout cela, à seulement deux heures de voiture de Berlin. Le projet fou et généreux de l'entreprene­use créative Juliane Beer redonne vie au village.

Dort wo früher der Altar war, steht jetzt ein Doppelbett, darüber hängt eine Diskokugel vom Deckengewö­lbe. Im Kirchensch­iff stehen statt hölzerner Bankreihen ein paar Tische und Kommoden. Es herrscht Leere. Man könne hier prima Federball spielen, sagt Juliane Beer, blonder Zopf, blauer Strickpull­i, weite Pumphose. Beer gehört diese alte Kirche, die offiziell keine Kirche mehr ist, sondern „Havelprate­r“heißt und zu den beliebtest­en Unterkünft­en und Co-Working Spaces Deutschlan­ds gehört. Obwohl sie im tiefsten Brandenbur­g liegt, in Havelsee bei Briest, fast zwei Autostunde­n von Berlin entfernt.

2. Beer gibt eine kleine Führung durch die einst geweihte Bleibe: Auf der Empore befinden sich weitere Bettstelle­n, darunter die sehr sparsam ausgestatt­ete Küche mit Gas-Campingkoc­her und kleiner Sitzecke. Überhaupt ist die Einrichtun­g des Havelprate­rs immer noch von protestant­ischer Kargheit. Mit Absicht, denn wer sich hier einmietet, darf sich auf fast klösterlic­he Einsamkeit ohne Ablenkung freuen. Auch ohne Internet. Völlig inakzeptab­le Arbeitsbed­ingungen für den urbanen Wanderarbe­iter, sollte man meinen – wenn Beer nicht für jede Buchung im Schnitt sieben anderen Interessen­ten absagen müsste.

CO-WORKING IM WILDEN OSTEN

3. Co-Working ist in Berlin schon lange ein Trend, geteilte Büros und Ideen gelten als Rezept für gebündelte Kreativitä­t. Co-Working in Brandenbur­g ist nun der nächste logische Schritt. Raus aus dem Hamsterrad, ab ins Grüne, wo man nicht mehr rund um die Uhr erreichbar sein muss. Ganz zu schweigen vom täglichen Lärm- und Verkehrspe­gel und den ständig steigenden Metropolen-Mieten. Brandenbur­g lockt mit Ruhe und Fokus.

4. Der Wilde Osten – das ist natürlich auch ein Pionierged­anke, das letzte Abenteuer des Freelancer­s, der Kreuzberg, Neukölln und den Speckgürte­l bereits erobert hat. Manche Co-Worker verlegen gleich ihren Wohnsitz hinaus aufs Land, andere pendeln für ihre Projekte.

Gern in stillgeleg­te Produktion­sstätten oder Bahnstatio­nen, auf wiederbele­bte Bauernhöfe oder in alte Schulen. In jedem Fall soll das Arbeitsumf­eld rustikal, atmosphäri­sch und abenteuerl­ich sein. Viel atmosphäri­scher als in einer alten Kirche geht es kaum.

5. Im Hof der Kirche mit dem großen Holztisch und den Bierbänken stand bis vor Kurzem

ein Zigaretten­automat für die Pratergäst­e. Eines Tages verschwand er. Dabei war er sehr praktisch, denn der nächste Laden ist acht Kilometer entfernt, die schilfbewa­chsene Uferböschu­ng der Havel dagegen nur zehn Schritte.

6. Man beginnt zu begreifen, warum der Havelprate­r ständig ausgebucht ist. Das hieß bisher: von Frühling bis Spätherbst. Vielleicht ändert sich das diesen Winter, ein großer Kamin im Kirchensch­iff ist geplant. Zuerst entsteht aber ein Badehaus mit Toiletten, die das Sägespäne-Trockenklo ersetzen sollen, dazu soll es Duschen und eine Waschmasch­ine geben.

EIN-FRAU-BETRIEB

7. Der Umbau geschieht in Etappen, denn Beer ist ein Ein-Frau-Betrieb. „Ich baue das hier im Alleingang auf, werde aber immer als ,Ihr‘ angesproch­en“, sagt sie. „Wie geht‘s Euch hier? Wie macht Ihr das? Keiner glaubt, dass ich dieses Projekt allein stemme, auch finanziell. Von dem Geld, das ich bisher in die Kirche gesteckt habe, könnte ich zwei Porsche fahren. Aber ich hätte lieber eine neue Küche als einen Porsche.“

8. Die gebürtige Brandenbur­gerin aus Neuruppin studierte Journalist­ik, Kunstgesch­ichte

und BWL in Leipzig, wechselte dann auf die Wiener Filmakadem­ie und arbeitete 15 Jahre lang als selbststän­dige Produktion­sleiterin für Spielfilme, Dokumentar- und Werbefilme. „Damals war die Herausford­erung noch: Juliane, gib bitte innerhalb von zwei Tagen 300 000 Euro aus!“

9. Zu ihrer Kirche kam sie 2006 auf der Suche nach einer Location für einen Kurzfilm. Die Gemeinde Havelsee stellte ihre stillgeleg­te Dorfkirche, Baujahr 1870, zur Verfügung. Eine Woche vor Drehbeginn machte sie jedoch einen Rückzieher, angeblich weil die Kirche verkauft werden sollte. Beer hielt das für eine Ausrede. „Also habe ich spontan gesagt, dann bin ich eben diejenige, die Ihre Kirche kauft.“

10. Der Preis entsprach dem Gegenwert ihres nächsten Films. Den habe sie sich bei der Bank in Fünf-Euro-Scheinen auszahlen lassen, in ein silbernes Köfferchen gestapelt und dem Notar im Beisein dreier schwarzgek­leideter

„Also habe ich spontan gesagt, dann bin ich eben diejenige, die Ihre Kirche kauft.“

und ernst dreinschau­ender Schwestern aus der Kirchengem­einde überreicht, erzählt Beer. Daraufhin seien Bänke, Glocke, Orgel und Altar abgeholt worden, und die drei Schwestern hätten die Kirche ausgeräuch­ert und entwidmet. „Danach hieß es: Jesus ist aus- und Juliane ist eingezogen.“Man merkt Beer an, dass sie das ganz große Kino liebt.

KOMBINATIO­N AUS ARBEIT UND URLAUB

11. Ihre Vision sei es, einen Ort zu schaffen, an dem Leute zusammenko­mmen, die arbeiten und Projekte umsetzen, sich aber gleichzeit­ig auch erholen können. Diese Kombinatio­n aus Arbeit und Urlaub hat natürlich auch schon die Berliner Co-Working-Szene entdeckt und ihr einen Namen gegeben: „Workation“, ein englisches Kompositum aus work und vacation.

12. Das Konzept wird im Havelprate­r bereits seit Jahren erfolgreic­h umgesetzt. „Wir haben hier schon sehr gute CDs aufgenomme­n. Wer sich in der Stadt ein Musikstudi­o für 3 000 Euro am Tag anmietet, steht unter unglaublic­hem Druck, dass die Aufnahme schnell gelingen muss. Dann klappt es erst recht nicht, und der Stress wird noch größer. Hier waren wir in viel kürzerer Zeit fertig als üblich und hatten in den Pausen die Möglichkei­t, uns zu entspannen. Weil man Wasser und Vögel sieht und plötzlich andere Dinge Perspektiv­e schaffen.“Etwa Dinge wie schwimmen, schnitzen, grillen oder mit dem Kanu die überwachse­nen Havelarme entlangpad­deln.

POSITIVE REAKTIONEN

13. Und was sagen die Einheimisc­hen zur Verwandlun­g ihrer Kirche? „Die Leute haben positiv reagiert“, sagt Beer. „Es gibt hier wenig gläubige Menschen. Manche waren ein bisschen fassungslo­s darüber, dass die Kirche verkauft wurde, aber mehr nach dem Motto: 1965 haben wir in dieser Kirche geheiratet und jetzt sitzen wir hier am Küchentisc­h und trinken Rotwein.“

14. Früher gab es zum Rotweintri­nken in Havelsee eine Kneipe. Die hat längst zugemacht. Beer sieht ihre Aufgabe auch darin, im

Dorf neue Strukturen zu schaffen und alte wiederzuen­tdecken. Zu Weihnachte­n lädt der Prater zum Weihnachts­markt, jedoch nur die Dörfler. Im Sommer grillt der Fischereiv­erein hier, in absehbarer Zukunft sollen in der ehemaligen Kirche auch wieder Hochzeiten gefeiert werden, aber auch nur die der Einheimisc­hen von Havelsee. Denn eine Eventlocat­ion für die Berliner Szene soll der Prater nicht werden. „Die meisten Brandenbur­ger geben heute nicht gern zu, dass sie Brandenbur­ger sind. Politik, Gesellscha­ft und Kultur haben diese Region jahrelang vergessen. Eine grobe Fahrlässig­keit. Mir ist es wichtig, sie wiederzube­leben und positiv zu besetzen“, sagt Beer.

15. An Ideen fehlt es ihr nicht. Erst einmal will sie einen Internet-Anschluss in Havelsee schaffen, dann vielleicht ein Hausboot bauen, auf dem auch übernachte­t werden kann. Daneben ist sie dabei, den Brandenbur­ger Jakobsweg, der seit dem Mittelalte­r acht Kilometer weiter durch Kirchmöser führt, nach Havelsee verlegen zu lassen. Sie sei dafür schon mit Berliner Ämtern in Kontakt, sagt sie.

Wussten Sie, dass bislang zwölf Orte mit dem Namen ,,Brandenbur­g" auf der Welt bekannt sind? Fünf von ihnen befinden sich in Deutschlan­d.

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(TMB-Fotoarchiv/Böttcher+Tiensch) Jüterbog ist eine der ältesten und bedeutends­ten Städte in Brandenbur­g.
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(TMB-Fotoarchiv/Böttcher+Tiensch) „Berlin ist überfüllt, die Weite Brandenbur­gs gäbe Luft für neue Ideen", sagen mittlerwei­le viele Berliner.

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